Getanzte Reflexion

KULTUR & POLITIK Zum fünften Mal feiert das Göttinger „Antifee“-Festival für gelebte Gesellschaftskritik

„Wenn ich nicht tanzen kann, möchte ich an eurer Revolution nicht beteiligt sein.“ Gesagt hat Emma Goldman diesen ihr auf unzähligen T-Shirts, Flugschriften und Plakaten zugeschriebenen Satz vielleicht – aufgeschrieben hat sie ihn nie. Dafür diesen: „Ich glaube nicht, dass ein Anliegen, das für ein wunderschönes Ideal steht, für Anarchismus, für Befreiung und Freiheit von Konventionen und Vorurteil, die Zurückweisung von Leben und Freude fordern sollte.“

Und darin sind sich die VeranstalterInnen des selbst organisierten Göttinger „Antifee“-Festivals, das diesen Freitag und Samstag zum fünften Mal auf der Wiese zwischen Blauem Turm und Kreuzbergring stattfindet, mit der Ikone des amerikanischen Anarchismus ebenso sicher einig: „Spaß darf bei aller nötigen kritischen (Selbst)-Reflexion nicht zu kurz kommen“. Aber eben auch umgekehrt: Ohne kritische (Selbst-)Reflexion können zumindest nicht alle Spaß haben. Aus einem ganz einfachen Grund: „Jede Person ist durch ihr Handeln Teil gesellschaftlicher Strukturen und deshalb sind Musik- und Feierkultur nicht frei von gesellschaftlichen Zwängen.“

Zwei Tage lang wird darum nicht nur beim Musikprogramm darauf geachtet, dass gesellschaftliche Verhältnisse und Herrschaftsmechanismen ganz praktisch kritisiert werden: zwischen Bands und Künstlern wie der Wiener Autorin, Slammerin und Rapperin Mieze Medusa, dem Elektropop-Projekt Räuberhöhle der Berliner Musikerin und Künstlerin Krawalla, den dänischen Elektropoppern Vibeke Falden oder den US-Post-Punkern Trophy Wife gibt es Diskussionen zur Extremismusdebatte und zum „politischen Feiern mit antisexistischem Anspruch“, außerdem eine Lesung mit queeren Texten, Gedichten und Geschichten.

Vor allem aber gibt es rund um die Bühne zwei Tage lang jede Menge Workshops und Vorträge zu unterschiedlichen Themen. Dabei kann das, was man lernen kann, ganz praktisch sein wie im Siebdruck-Workshop „Pimp your Pulli“, der am Freitag- und Samstagnachmittag Hilfestellung gibt, die selbst mitgebrachten Alltags-Klamotten ganz selbst bestimmt für den Sommer aufzupeppen. Oder historisch: mit den Kategorien „Körper“ und „Geschlecht“ im Antisemitismus des Deutschen Kaiserreichs setzt sich der Workshop „Vom ‚effeminierten Juden‘, ‚maskulinisierten Jüdinnen‘ und ‚jüdischer Männerbundschwäche‘“ auseinander. Oder theoretisch: Wie queere Perspektiven auf kapitalistische Verhältnisse aussehen, fragt der Workshop „Queere Ökonomiekritik“. Oder kulturell: Beim Workshop „Poetry Slam DIY“ weiht Mieze Medusa in die feinen Unterschiede der Bühnenpoesie ein, erklärt, wie man Schüttelreime oder Prosa vorträgt und lädt ein, selbst zu Stift und Mikro zu greifen.

Und auch für die Jüngsten ist gesorgt, während die Eltern diskutieren oder tanzen: Kinder werden bis abends betreut, können spielen, malen, sich vorlesen lassen oder einfach gemeinsam entdecken, was in den Hecken ringsum so alles lebt. Und am Freitagabend werden vom Magier Keski ganz gewöhnliche Gegenstände verzaubert. MATT

■ Göttingen: Fr, 10. 6. und Sa, 11. 6., Campus Uni Göttingen, Wiese hinter dem Blauen Turm, Kreuzbergring, Infos und Programm: www.antifee.de