WER GELD HAT UND WER NICHT, BLEIBT OFFEN IN SCHÖNEBERG
: Ein dickes Bündel 100-Euro-Scheine

DIRK KNIPPHALS

WESTWÄRTS, HO!

Interessant, in einem Stadtteil zu wohnen, in dem arme und reiche Menschen nebeneinander leben und man auf den ersten Blick nicht erkennt, wer zu welcher Gruppe gehört. Im Edeka-Markt in der Gleditschstraße trifft man die Studentin, die sich am Samstag die Qualitätsbrötchen in der Bäckereifiliale nicht leisten kann und auf die Automatenaufbackbrötchen zurückgreift. Hinter ihr an der Kasse steht der erfolgreiche Schauspieler in Jogginghose, um drei Päckchen Edelnüsse, zwei Schachteln Schokolade und zwei Flaschen Champagner zu bezahlen – zusammen 120 Euro – nachlässig, wie Tony Soprano ein dickes Bündel 100-Euro-Scheine aus der Hosentasche zieht.

Der Edeka-Markt hat sich jedenfalls auf ein breites Sortiment eingestellt, nicht nur von Waren, auch von Kunden. Obligate Sonderangebote pflegen die gering verdienende Kundschaft. Die Standardvollmilch ist nicht teurer als bei Aldi. Luxusprodukte wie Obstsorten, deren Namen man noch nie gehört hat, halten die Gutverdienenden bei der Stange.

Für beide Preissegmenten ist in der Umgebung die Konkurrenz groß. Neben Aldi gibt es weitere Billigsupermärkte. Außerdem findet man türkische Gemüsehändler, bei denen man für 5 Euro einen reichhaltigen Salat sowie Ratatouille für eine sechsköpfige Familie zusammenstellen kann und noch ein Kilo Couscous obendrauf kriegt. Auf der anderen Seite des Spektrums liegen die Weinhandlungen, in denen man sich problemlos durch die 50-Euro-Liga spanischer Spitzenlagen trinken kann. Dazu noch einmal über den Winterfeldtmarkt geschlendert, hier ein paar eingelegte Shrimps mitgenommen, dort ein Glas Honig aus dem Hochland Mittelamerikas gekauft – und wieder hat man was fürs Bruttosozialprodukt getan. Wer Geld hat und es selbst nicht braucht, kann es hier problemlos unter die Leute bringen.

Soziologisch ist die Gegend zwischen Winterfeldtplatz und Akazienstraße im Alltagsdiskurs als urbane Mittelklasse abgespeichert. Aber das darf man sich lebenspraktisch nicht als homogenes Feld vorstellen. Durchschnittszahlen sagen nicht viel – in Wirklichkeit trifft der gealterte Selbstverwirklicher, der mit Altmietvertrag für 600 Euro warm allein mit Stuck, Balkon und Flügeltüren in der 140-Quadratmeter-Wohnung lebt, auf das junge Medienpaar, deren Eltern ihnen zur ersten Schwangerschaft eine süße Altbauwohnung kauften. Als Nachbarn haben beide möglicherweise Hartz-IV-Bezieher oder emeritierte FU-Professoren – wobei diese vom Outfit her nicht immer voneinander zu unterscheiden sind.

In der Goltzstraße wurde in eine Bombenlücke jetzt ein schwarzer Neubau eingepasst. Pro Etage eine Eigentumswohnung, alles Glas, Balkon und Modernität, und ganz oben eine Dachterrasse, auf der man Tennis spielen könnte. Daneben steht ein Fünfzigerjahrebau, für den man bestimmt einen Wohnberechtigungsschein braucht und auf dessen Balkons höchstens ein Schachbrett Platz findet. Dieses offensive Präsentieren von Vermögensunterschieden ist ein schlechtes Beispiel für die Gegend, wo Aussehen und Einkommen oft so arbiträr sind wie in der modernen Sprachtheorie Zeichen und Bezeichnetes.

Ein typisches Beispiel ist ein Haus in der Kyffhäuserstraße, in deren dritter Etage, Vorderhaus ich die Bewohner beider Wohnungen kenne. Nach außen die gleiche Jugendstilfassade. Nur dass dem Bewohner links die Wohnung gehört, während der Bewohner rechts die Hälfte seines Einkommens für die Miete aufwendet. Er kam nie über die in den siebziger Jahren angesagten Holzbücherregale hinaus – immerhin wurde er bei der Umwandlung des Hauses nicht rausgeklagt – während der Bewohner links zwischen Designerstücken moderne Kunst an der Wand hängen hat. Beide habe ich schon mal im Edeka getroffen – beide in Levi’s-Jeans und H&M-Kapuzenpulli.