Der Fischer und die Streunerin

REALISTISCH In „Angèle und Tony“ erzählt Alix Delaporte von einem ungewöhnlichen Paar und einer Fischersiedlung an der Küste der Normandie. Der Film ist nicht melodramatisch, aber märchenhaft

Alix Delaporte inszeniert extrem realistisch, es gibt keinerlei melodramatische Überhöhung in diesem Film, der auf der augenscheinlichen Ebene einfach nur vom alltäglichen Leben von Fischern in der Normandie erzählt

VON WILFRIED HIPPEN

„Siehst du dich mit jemandem wie mir?“ fragt Tony (Grégory Gadebois) bei ihrem ersten Treffen Angèle (Clotilde Hesme), und die gibt darauf eine obszöne, alles andere als engelsgleiche Antwort. Sie ist schön, er ist moppelig, sie wirkt abgebrüht, er ist scheu, sie schert sich um nichts, er lebt bei seiner Mutter, um die er sich kümmert. Ein wirklich seltsames Paar sind die beiden, und ihre Geschichte muss einfach märchenhafte Züge haben, sonst wäre sie von vornherein unmöglich. Dabei inszeniert der Regisseur Alix Delaporte extrem realistisch, es gibt keinerlei melodramatische Überhöhung in diesem Film, der auf der augenscheinlichen Ebene einfach nur vom alltäglichen Leben von Fischern in der Normandie erzählt.

Tony arbeitet auf einem Kutter, seine Mutter verkauft den Fang auf dem Markt und ein Bruder ist ohne Arbeit, weil sich das Gewerbe durch die Fangquoten und die niedrigen Preise kaum noch lohnt. Es gibt Proteste, und bei einer Demonstration fangen sich die Polizisten Ohrfeigen mit Fischen ein. Aber davon abgesehen ist es ein ruhiges, einfaches Leben, in das die chaotische Angèle dort hineinplatzt.

Sie sieht man zuerst bei einem tristen, offensichtlich geschäftsmäßigen Geschlechtsverkehr. Bezahlt wird sie mit einer Actionman-Spielpuppe, die sie ihrem Sohn schenken will, aber vor der Schule flüchtet sie dann vor ihrer Begegnung mit ihm. Ihre Lederjacke scheint sie nie auszuziehen und jede ihrer Gesten drückt Trotz und Abwehr aus. Der Sohn lebt bei den Großeltern und ihr Bewährungshelfer macht ihr deutlich, dass sie ihn nur dann wieder zu sich nehmen kann, wenn sie in halbwegs geordneten Verhältnissen lebt. Diese kann ihr Tony und seine Familie bieten, und so taucht sie plötzlich (auf einem vorher geklauten Fahrrad) in dem kleinen Fischerdorf auf und verlangt im Grunde, dass Tony sich um sie kümmert.

Wie die beiden miteinander umgehen, wie Tonys Mutter auf sie reagiert und wie Angèle sich langsam in der zwar armen, aber warmherzigen Gemeinschaft verändert, erzählt Delaporte in einem nur an der Oberfläche sachlichen Stil. Er buhlt nicht von der ersten Einstellung an um sein Publikum, und in der Vorpremiere im Bremer Kino Cinema gingen einige Zuschauer schon nach den ersten zwanzig Minuten. Sie haben die erstaunliche Entwicklung der Protagonisten verpasst, die der Film gerade dadurch am besten einfängt, dass er nicht romantisiert. Die beiden sind auf den ersten Blick alles andere als ein schönes Paar, und die absichtlich flache Inszenierung weckt auch nicht unbedingt das Interesse. Um so überraschender und bewegender ist dann aber der weitere Verlauf des Films, und nach einiger Zeit bemerkt man auch die Finesse des Regisseurs, die er mit vermeintlicher Kunstlosigkeit zu kaschieren versucht. So gibt es ein grandios geschriebenes und gespieltes Zwiegespräch der beiden im Schlafzimmer (nachdem sie etwa in der Mitte des Films zum ersten Mal die Lederjacke auszieht), und eine Szene vor Gericht, bei der sich Angèle mit ihren Großeltern um das Sorgerecht für ihren Sohn streitet, ist eine originelle Variation von Brechts „Der Kaukasische Kreidekreis“.

Delaporte arbeitet in seinem Debutfilm auch sehr geschickt mit Spiegelungen und Leitmotiven. So wie Angèle ihren Sohn auf dem Fahrrad mitnimmt, wird sie später von Tony auf dem Motorrad gefahren und die ganze Geschichte wird im Grunde schon dadurch erzählt, wie Angèles Hände mit den Fischen arbeiten. Und zum Finale gibt es eine wunderschöne Vereinigung am Strand bei den Krebsen, die zwar märchenhaft, aber zugleich absolut glaubhaft wirkt, weil der Film uns Zeit ließ, um Angèle und Tony kennen und schätzen zu lernen.