AUF DER ALTEN TRANSITSTRECKE GING’S AUCH NICHT LANGSAMER NACH WOLFSBURG
: Gummischnecken wären besser

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Berlin zu verlassen, ist wieder schwieriger geworden, zumindest mit dem Zug. Auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke Richtung Wolfsburg, die man unter dem Lügenetikett „Aufbau Ost“ exakt in Sichtweite mitten zwischen den einzigen größeren Ansiedlungen auf DDR-Gebiet hindurchgebaut hat, ist eine Baustelle angekündigt. Die verlängerte Fahrzeit steht bereits im Reiseplan: zweieinhalb Stunden statt neunzig Minuten. Der Fahrpreis bleibt derselbe.

Ich wähle ein leeres Sechserabteil. Gerne pflege ich ja mit Hilfe einer aufgerissenen Bierdose vor mir auf dem Tisch dafür zu sorgen, dass ich ungestört bleibe. Doch heute ist es mir dazu schlicht zu früh: Scheißanstoßzeiten in der zweiten Liga. Folgerichtig bekomme ich Gesellschaft. Eine leidlich adrette junge Frau betritt das Abteil, setzt sich auf den Platz mir schräg gegenüber und zieht die Schuhe aus. Sofort vermisse ich meine Bierdose, die ich ja auch mit Leitungswasser hätte präparieren können. Dass Damensocken derart stinken können, hätte ich nicht erwartet. Vom Gesichtspunkt einer höheren Gerechtigkeit ist es sogar irgendwie okay, dass mir mein positiver Sexismus hier mal gründlich um die Ohren geschlagen wird, der mir einflüstert, eine leidlich adrette junge Frau habe in jedem Fall zu duften wie ein Blümchen, anstatt eben auch mal riechen zu dürfen wie ein Obdachloser. Gleiches Recht für alle. Wobei sicher anderthalb Stunden Fahrzeit locker ausgereicht hätten, um die Klischees in meinem Kopf mittels chemischer Keule komplett auszumerzen. Ich fühle mich überbestraft.

Voller Preis im Bummelzug

Ein Bahnbediensteter betritt kurz das Abteil und legt uns zwei kleine Tüten mit Gummibärchen in Maulwurfsform auf den Tisch: eine für das Stinkefräulein und eine für mich. Das ist die Entschädigung der deutschen Bahn für eine Baustelle, die planmäßig eine Stunde Zeit kostet. Wir sind zum vollen Preis mit einem Bummelzug unterwegs – dabei bildet bei kürzeren Strecken der ICE-Zuschlag den Löwenanteil der Ticketkosten.

Doch anstatt nun das einzig geschäftlich Seriöse zu tun, nämlich für die geminderte Leistung im Ausgleich auch den Tarif zu senken, verhöhnt uns der Verspätungsteddy von der Bimmelbahn wie kleine Kinder mit je einem Tütchen Gummimaulwürfe, dem Symbol der DB für Streckenarbeiten. Dabei wären Gummischnecken weitaus angebrachter: Langsamer war die Reichsbahn vor der Wende auch nicht, und da war noch die Zeit für das Ver- und Entplomben der Waggontüren sowie das Beschnüffeln der Unterböden durch volkseigene Schäferhunde in Griebnitzsee und Marienborn mit enthalten, damit nur ja keines der wertvollen Ampelmännchen stiften ging.

Fahrzeiten wie auf der alten Transitstrecke, und dazu ein börsenorientiertes milliardenschweres Unternehmen, das sich seinen Kunden gegenüber verhält wie eine altersdemente Omi, die ihren erwachsenen Enkeln in rührender Weltfremdheit zwanzig Pfennige zum Geburtstag zusteckt. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich das nicht vielleicht auch ein kleines bisschen charmant finden soll, denn diese tapsigen Hilflosigkeiten, vermutlich ersonnen von hochbezahlten Managern, sind immerhin ein tröstlicher Hinweis darauf, dass gerade in den Bereichen Wirtschaft und Politik im Grunde jeder Idiot ohne jegliche Ausbildung jeden Job machen könnte, also letztlich auch ich. Bahnchef, Bankenvorstand, Außenminister.