Verstörte Seelen

RUHRTRIENNALE Von Nurkan Erpulat wird viel erwartet seit seiner Inszenierung „Verrücktes Blut“. Jetzt liegt Kafkas Roman „Das Schloss“ auf dem Tisch, das Ensemble liest im Chor

Die Aussichtslosigkeit, die Kafkas Roman im Nichts enden lässt, ist irgendwann nicht mehr zu steigern

VON REGINE MÜLLER

Franz Kafkas Texte sind eigentlich das genaue Gegenteil von Theater: Arm an Handlung, bevölkert von rätselhaften, verschlossenen Gestalten in unerklärlichen Verhältnissen erzählen sie stockend und unwillig, ihr Geheimnis preiszugeben Geschichten, die der Logik des Albtraums folgen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb üben Kafkas Stoffe in letzter Zeit eine magische Anziehung auf Theatermacher aus. Am Bochumer Schauspielhaus dampfte kürzlich Jan Klata Kafkas „Amerika“-Roman auf eine grell bunte Comic-Version ein, die streckenweise skurrilen Witz entfaltete, letztlich aber des monströsen Textes nicht wirklich Herr wurde.

Sozusagen nebenan, in der Turbinenhalle hinter der Bochumer Jahrhunderthalle, hat nun Nurkan Erpulat mit seinem Dramaturgen Jens Hillje für die Ruhrtriennale Kafkas späten Roman „Das Schloss“ dramatisiert. Im vergangenen Jahr brachte Erpulat für das Festival in Koproduktion mit dem Berliner Ballhaus Naunynstraße „Verrücktes Blut“ heraus und katapultierte sich damit an die Spitze der Theaterrepublik. „Verrücktes Blut“ räumte zahlreiche Preise ab und Erpulat wurde zum „Nachwuchsregisseur des Jahres“ gekürt. Es war das Stück zur Sarrazin-Debatte und überhaupt zum Thema Integration, das Erpulat schnörkellos mit einem authentischen Ensemble auf die Bühne stellte. Seither gilt Erpulat als Aushängeschild des postmigrantischen Theaters. Ein Etikett, mit dem er sich offenbar nicht abfinden will.

Denn was hätte näher gelegen, als Kafkas Geschichte des rätselhaften Landvermessers namens K., der als Fremder in die hermetische Gesellschaft eines abgelegenen Dorfes kommt, als heutige Migrationsgeschichte zu erzählen? Doch Erpulat unterläuft bewusst diese Erwartungen, verlegt die Handlung in einen abstrakten Raum und besetzt den Landvermesser K. mit Moritz Grove aus dem Ensemble des koproduzierenden Berliner Deutschen Theaters. Aus dem Ballhaus-Ensemble besetzt er ironischerweise dagegen zwei der verstockten Dörfler: Tamer Arslan gibt mit breitem türkischem Akzent und schwerem Goldkettchen Jeremias, einen der späteren Gehilfen von K., und Sesede Terziyan dessen Geliebte Frieda.

Ehrfurcht vor Kafka

Die Textfassung von Erpulat und Hillje geht sehr vorsichtig, um nicht zu sagen ehrfürchtig mit Kafkas Text um, mit großer Genauigkeit, Liebe zum Detail und dem – natürlich vergeblichen – Anspruch auf Vollständigkeit. In die vergleichsweise intime Turbinenhalle hat Bühnenbildnerin Magda Willi nur zwei Tische gestellt, zwei Plexiglaswände fahren gelegentlich herunter und sind je nach Beleuchtung mal durchsichtige Trennwand, mal Spiegelfläche. So werden Räume angedeutet, deren Intimität trügerisch ist, denn durch die Glaswände bleibt den lauernden Dorfbewohnern nichts verborgen.

Wenn die Zuschauer eingelassen werden, sitzt das gemischte Ensemble am Tisch und plaudert, Kafkas Roman liegt auf dem Tisch. Irgendwann steht Katharina Matz auf und verliest mit energischer Stimme die ersten Sätze des Romans. Dann scharen sich die anderen um sie, fallen ihr ins Wort, bis aus dem Text ein vielstimmiger, gehetzter Chor wird. Eine Weile geht es so, dass die Schauspieler sich nicht zu konkreten Figuren verdichten, sondern abwechselnd den Text beinahe wie auf dem Tablett präsentieren. Dann ordnen sich allmählich die Stimmen den Figuren zu und das Spiel nimmt seinen Lauf.

Erpulat komponiert dichte Szenen, führt die Schauspieler souverän und gibt schlaglichtartig Einblicke in verstörte Seelen. Immer wieder gelingen ihm intensive Momente und eindrückliche Bilder. Und doch verliert man, zunächst ganz unmerklich mehr und mehr das Interesse am Geschehen auf der Bühne. Nach einer Weile scheint alles gesagt, denn die Aussichtslosigkeit, die Kafkas Roman mitten im Satz im Nichts enden lässt, hat sich ja längst mitgeteilt und ist irgendwann nicht mehr steigerungsfähig. So stagniert die Aufführung zuletzt, freilich auf hohem Niveau. Zudem weiß man trotz starker Momente in der Summe nicht so recht, wo Erpulat eigentlich hin will mit seiner so texttreuen Dramatisierung.

Daran kann auch das hervorragende Ensemble wenig ändern: Moritz Grove ist ein zwischen Unterwürfigkeit und Lebenshunger schillernder, fiebriger K., Sesede Terziyan eine vitale und zugleich gebrochene Frieda, Katharina Matz stattet sowohl die Wirtin als auch die Lehrerin mit freundlich grausamer Unerbittlichkeit aus, Thomas Schumacher grenzt gleich drei Rollen scharf voneinander ab, Tamer Arslan und Max Pellny geben die Gehilfen mit hohem Körpereinsatz und unerklärlicher Hysterie, die sie abwechselnd schleimend auf dem Bauch rutschen oder in Casting-Show-Jubel ausbrechen lässt.