Vor sich selbst auf der Hut

LESUNG Am Sonntag liest der Theaterregisseur und Dichter Hans Neuenfels aus seinem autobiografischen „Bastardbuch“ in der Akademie der Künste

Man beneidet Hans Neuenfels um seine Kraft der Vergegenwärtigung

Wer seine Stimme einmal gehört hat, im Radio vielleicht, wird sie nie wieder vergessen. Sie klingt so rau, nach so viel Rausch und Rauch, die Stimmbänder wie in Kirschwasser imprägniert, dass man nicht umhinkann zu denken: Dieser Mann hat einiges überlebt. Schon um dieser Stimme willen ist der Besuch einer Lesung von Hans Neuenfels der beste Einstieg, den man in sein autobiografisches „Bastardbuch“ nehmen kann.

Neuenfels ist 1941 in Krefeld geboren, und recht pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag erschien dieser Rückblick auf sein Leben als Regisseur, Dichter und Filmemacher. Wobei schon das Wort „Rückblick“ zu schlicht gewählt ist für dieses Geflecht aus Erinnerung, Zweifel, Selbstreflexion und Kulturgeschichte. Hier schreibt jemand, der vor sich selbst auf der Hut ist und Literarisierung des eigenen Lebens einerseits genießt und andererseits misstrauisch beobachtet. Kritisch kommentiert er sich selbst, wenn er glaubt, dass hinter einer gerade erzählten Episode eigentlich etwas anders lauert, was schmerzhafter und auch nicht ganz fassbar zu erinnern ist. Womöglich erfindet er dann einen imaginären Dialog mit einem teuren Psychiater, um sich selbst auf die Schliche zu kommen.

Dieses Sich-selbst-Beobachten im Vorgang des Schreibens gibt eine gute Ahnung von der Arbeitsweise dieses Regisseurs, von seinen Gedankengängen. Das „Bastardbuch“ zeigt einen geistig sehr beweglichen, teils auch von Unruhe getriebenen Menschen, der sich manchmal gern nur mit einem Glas Weißwein unter dem Apfelbaum ausstrecken möchte, aber schon galoppieren Fragen heran und seine Fantasie davon. Natürlich ist es aufschlussreich zu lesen, wie einer, der den Aufbruch der Nachkriegsgeneration im Theater mitgestaltet und miterlitten hat, davon erzählt. Wie Erfolg sich in Skandal verwandelt, politische Frontverläufe sich über jedwede andere Wahrnehmung stülpen, konservative Stadträte und linke Studentengruppen gleichermaßen in dem Regisseur einen Gegner entdecken.

In Trier erhielt der gerade mal 25-jährige Regisseur 1966 nach vier Inszenierungen und einer obskuren Manifestaktion Hausverbot am Theater; aber das Publikum stand für ihn ein. In Heidelberg setzt er mit Schauspielern, Schülern und Laien auf der Bühne zum Sprung ins Offene an, wird nach Berlin zum Theatertreffen eingeladen und dort zerfetzt. Dass er den Bastard als Bild für einen Zustand wählt, in dem er sich wiederholt wiederfindet, hängt offensichtlich mit dem Leiden an diesen Erfahrungen, der verweigerten Zugehörigkeit zusammen.

Willi Wichtig war da

Sie könnte heroisch und selbstverklärend ausfallen, die Erinnerung an diese Zeit. Tut sie auch gelegentlich; aber mindestens so groß hält der Autor eben das Misstrauen gegen die Floskeln vom Kampf des Künstlers. Da erinnert er sich doppelt, wie er sich echauffiert, seinen Kampf einer Freundin schildert, ihn im Schildern noch mal erlebt und plötzlich, mittendrin, von der Erkenntnis eingeholt wird: „Willi Wichtig! Willi Wichtig nannten wir dergleichen! Ich war jetzt einen von ihnen.“ Und peinlich ist ihm die vorangegangene Rage der Selbstüberschätzung.

Auf vielen Bildern im „Bastardbuch“ sieht man ihn mit der Schauspielerin Elisabeth Trissenar, mit der er seit über fünfzig Jahren zusammen ist. Dass so eine lange Beziehung eigentlich unmöglich ist, beschäftigt ihn auch in seinem Buch, und das Glück, es trotzdem zu erleben, bringt ihn in Verlegenheit. Wenn Neuenfels persönlich wird, ist sein Buch oft berührend, aber peinlich ist es nie.

Was er wohl lesen wird beim 5-Uhr-Tee in der Akademie der Künste? Eine Strecke der Liebeserklärung an seine Frau? Die Entdeckung des Jungseins in Heidelberg? Wie ihm, als er in Bayreuth 2010 den „Lohengrin“ inszenierte, der Besuch einer Fledermaus nachts im Hotel die Angst vor der Inszenierung nahm? Über 400 Seiten hat sein Buch, das auch als ein gutes Nachschlagewerk für die bundesdeutsche Theater- und Operngeschichte benutzt werden kann. Oft beneidet man ihn beim Lesen um die Kraft der Vergegenwärtigung. Wer sich so plastisch zurückversetzen kann, der hat die Tage seines Lebens doch irgendwie auch wie einen Schatz zur Verfügung. Das ist beruhigend.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Akademie der Künste, am Pariser Platz, 16. Oktober, 17 Uhr