Und der Doktor erschuf eine Frau

MELOHORROR In „Die Haut in der ich wohne“ variiert Pedro Almodóvar verschiedene Themen des fantastischen Kinos und gibt ihnen dabei einen zeitgenössischen Dreh

Wie in all seinen Filmen lässt Almodóvar auch hier wieder seiner Vorliebe für das Melodram freien Lauf

VON WILFRIED HIPPEN

Wir Filmkritiker sind oft Spielverderber. Der Zuschauer sollte vorher möglichst wenig über die im Film erzählte Geschichte wissen, denn diese sollte sich ihm ja nur langsam während des Sehens erschließen. Ein guter Erzähler hält im Kino gewisse Informationen zurück, gibt subtile Hinweise, legt falsche Fährten, arbeitet mit Überraschungseffekten und all das kann durch einen neunmalklugen Halbsatz in einer Filmkritik zunichte gemacht werden. In englischen Kritiken hat sich nicht umsonst die Warnung „spoiler“ vor entsprechenden Formulierungen durchgesetzt. Im Pressematerial von Pedro Almodóvars neuem Film „La piel que habito“ wird entsprechend dem „ausdrücklichen Wunsch des Filmemachers“ darum gebeten, „den Ausgang des Films nicht zu thematisieren“.

Tatsächlich besteht das Hauptvergnügen dieses Film daraus, langsam die Abgründe der Geschichte zu ergründen. Er beginnt mit einem Blick auf eine Frau, die von einer Hausangestellten durch Überwachungskameras dabei beobachtet wird, wie sie in einem hautfarbenen enganliegenden Kleidungsstück Yogaübungen macht. Die Bedienstete versorgt sie durch einen Speiseaufzug mit einer Mahlzeit und einem Buch – offensichtlich ist die Frau gefangen in einem luxuriös, nur für sie eingerichtetem Raum. Dieser gehört zum Anwesen des Schönheitschirurgen Robert Ledgard, den wir dabei kennenlernen, wie er nach zwölf Jahren Forschungsarbeit die von ihm entwickelte künstliche Haut vorstellt. Seine Frau starb nach einem Autounfall an ihren fürchterlichen Verbrennungen, und er setzte danach seine ganze Energie dafür ein, jene Haut zu entwickeln, die sie hätte retten können.

Seine Kollegen sind skeptisch weil er vorgibt, seine sensationellen Ergebnisse nur durch Tierversuche erreicht zu haben, und ganz ähnlich wie in einer der ersten Szenen von „Frankenstein“ macht er in einem Streitgespräch deutlich, dass er die moralischen Bedenken der anderen Ärzte für kleinmütig hält. Dieses Zitat hat Almodóvar ganz bewusst so einfach erkennbar an den Anfang seines Filmes gesetzt, denn die Geschichte vom Arzt, der versucht, einen neuen Menschen zu schaffen, ist eindeutig die Inspirationsquelle seines Films. Weiter Vorbilder sind der poetische Horrorfilm „Augen ohne Gesicht“ von George Franju und Hitchcocks „Vertigo“, in dem der Held eine Frau so verwandelt, dass sie die Identität einer Toten einnimmt.

Almodóvar gibt diesen Elemente aus Genrefilmen einen neuen, modernen Dreh. So ist es nicht mehr wie bei dem Frankenstein-Mythos das Schaffen von künstlichem Leben, das ihn interessiert, sondern die Frage, wie künstlich das bestehende Leben gemacht werden kann. Dementsprechend spielt Antonio Banderas den Chirurgen Dr. Robert Ledgard nicht als einen jener genretypischen verrückten Wissenschaftler, der voller Hybris Gott spielen will, sondern als einen unterkühlt dämonischen Technokraten, der sein Wissen und seine Macht einsetzt, um sich seine eigene künstliche Welt einzurichten. In einer gespenstischen Szene betrachtet er Vera, sein Opfer und Geschöpf, auf einem riesigen Bildschirm, der an eine Überwachungskamera direkt neben ihrem Bett angeschlossen ist. Ihr Bild ist immer für ihn verfügbar, und diese Art des Schreckens ist bei der herrschenden allgegenwärtigen Videoüberwachung viel zeitgemäßer als die bluttriefenden Horroreffekte der meisten Genreproduktionen.

Wie in all seinen Filmen lässt Almodóvar auch hier wieder seiner Vorliebe für das Melodram freien Lauf. So wird die perfekte neue Welt von Dr. Ledgard schließlich durch einen brasilianischen Sohn der Haushälterin Marilia aus den Angeln gehoben, der in einem grotesken Tigerkostüm an der Pforte des Anwesens auftaucht und mit manischer Lüsternheit Chaos sät. Danach werden so viele Familiengeheimnisse offenbart und tragische Verwicklungen aufgedeckt, dass der letzte Akt leicht hätte lächerlich wirken können. Aber Almodóvar erzählt so meisterlich und trotz all der aberwitzigen Wendungen gelassen, dass „Die Haut in der ich wohne“ zugleich wunderbarer Schund und hohe Filmkunst ist.