Fotografien, die das Leben verändern

DER AUGENBLICK Mit absoluter Hingabe und höchster Anspannung – eine Retrospektive des großen US-amerikanischen Fotoessayisten W. Eugene Smith im Berliner Martin-Gropius-Bau

VON EVA-CHRISTINA MEIER

Als Fotograf war W. Eugene Smith, 1918 in Wichita, Kansas, geboren, ein Besessener und ein Perfektionist. Bereits achtundfünfzigjährig starb er 1976 an den Folgen eines exzessiven Amphetamin- und Alkoholkonsums. Eine Retrospektive zeigt nun nach Stationen in Spanien, Italien und den Niederlanden im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Auswahl seiner eindrücklichsten fotografischen Serien.

Bekannt wurde Smith vor allem durch seine Reportagen, die für das US-amerikanische Life Magazine zwischen 1946 und 1954 entstanden. Mit seinen dort veröffentlichten Alltagsporträts „Der Landarzt“ (1948), „Spanisches Dorf“ (1950) oder „Hebamme“ (1951) prägte er das Genre des Fotoessays bis in die sechziger Jahre nachhaltig. Mit absoluter Hingabe und höchster Anspannung, sowohl im Augenblick des Fotografierens als auch während der anschließenden Arbeit in der Dunkelkammer verdichtete Smith seine fotografischen Motive zu abgestimmten Bildfolgen, die immer auch von einer deutlichen Anteilnahme und Verbindlichkeit des Fotografen zeugen. Diese Ernsthaftigkeit und die vollkommene Abwesenheit von Ironie lassen die Fotografien von W. Eugene Smith auf sympathische Weise antiquiert erscheinen.

Smith strebte nach einer großen Präzision beim Erzählen in Bildern. Dabei war für ihn das künstlerische Schaffen nicht zu trennen von seinen politischen und sozialen Absichten über Rassismus („Hebamme“), Unterdrückung („Spanisches Dorf“) oder Zivilcourage („Minamata“) zu berichten. Um seinem Perfektionismus gerecht zu werden, nahm Smith nachträgliche Korrekturen am Ausgangsmaterial billigend in Kauf. Seine hohen Ansprüche meinte er trotzdem selbst nie einzulösen. In einer unvollendeten „Autobiografischen Erklärung“ schreibt er: „Ich habe viel mehr von der Musik, der Literatur, vom Theater und den anderen Künsten gelernt, als ich je von der Malerei oder der Fotografie lernen konnte. Ich weiß nicht, warum das so war. Ich entwickelte ein Sinn für Timing, für Dramaturgie und auch dafür, wie man Bilder zueinander in Beziehung setzt. Aber weit wichtiger war, dass ich auch emotional berührt wurde.“

Gespür für Dramaturgie

Ein anschauliches Beispiel für dieses Gespür für Dramaturgie findet sich in seiner 1950 veröffentlichten Reportage über das faschistische Spanien Francos, für das er nach zweimonatiger Recherche das Dorf Deleitosa in Extremadura auswählte. Gegen massive Widerstände der lokalen Amtsträger porträtierte er dieses Dorf in seiner ganzen Armut und Rückständigkeit der feudalen Verhältnisse unter der Diktatur Francos. Seine Aufnahmen erzählen von Bauern und Tagelöhnern, deren Leben aus Entbehrung und Unterdrückung besteht. Inmitten von Schmutz und Unterentwicklung zeigt Smith diese Menschen jedoch mit Würde und Mitgefühl. Er kontrastiert diese Bilder mit Fotografien des dahineilenden, wohlgenährten Dorfpriesters, den sich flegelnden Dorfsekretären und der gefürchteten Guardia Civil.

Dem Life Magazine übergab Smith siebenundfünfzig Bilder und fünfundvierzig Seiten begleitenden Text aus Deleitosa. Leider fehlen diese persönlichen, sehr informativen Aufzeichnungen in der Ausstellung. Im Katalog sind sie erfreulicherweise den Abbildungen zur Seite gestellt. Überhaupt wird erst bei der Lektüre des Katalogs die Beziehung der einzelnen Fotografien zueinander wirklich deutlich – kein Wunder, schließlich waren seine Arbeiten immer für das Printformat konzipiert.

Zu all seinen Fotoessays skizzierte Smith mit Bleistift minutiöse Layoutpläne, von denen einige auch in der Ausstellung präsentiert werden. Trotzdem musste Smith immer wieder verärgert feststellen, dass die Redakteure seine Überlegungen zur Veröffentlichung nicht berücksichtigten und er ihnen gegenüber machtlos war. Nach erneuten Auseinandersetzungen anlässlich der Publikation von „Ein Mann der Barmherzigkeit“ (1954), einer Reportage über den Arzt und Nobelpreisträger Albert Schweitzer, verließ deshalb Smith endgültig das Life Magazine und wechselt zur Fotoagentur Magnum.

Die Minamata-Krankheit

„Einige der Fotografien, die ich gemacht habe, veränderten auch das Leben von anderen.“ Dieser Satz, ebenfalls aus seiner „Biografischen Erklärung“, trifft wohl besonders auf sein letztes fotografisches Projekt in Minamata, Japan, zu. 1974 reiste Smith mit seiner zweiten Frau Aileen Mioko Sprangue in die seit 1971 durch Quecksilbereinleitungen der Industrie verseuchten Fischereigewässer. In der Region kam es infolge der Einleitungen zu schwersten Erkrankungen und Fehlbildungen bei Neugeborenen – der „Minamata Krankheit“.

W. Eugene Smith, zu diesem Zeitpunkt bereits gesundheitlich schwer angeschlagen, dokumentierte mit Unterstützung Aileens die Proteste der vergifteten Bewohner gegen Staat und Chemie-Konzern, die den Zusammenhang zwischen der Verschmutzung und der Krankheit hartnäckig negierten. Mit seiner Dokumentation aus Minamata machte Smith weltweit auf den japanischen Umweltskandal aufmerksam. Seine Fotografie des badenden, schwer behinderten Mädchens Tomoko in den Armen seiner Mutter wurde damals zum Sinnbild für die Leiden der Betroffenen und wirkt nun in der Ausstellung nach Fukushima auf beklemmende Weise aktuell.

■ Ausstellung: „W. Eugene Smith – Fotografien. Eine Retrospektive“. Martin-Gropius-Bau, Berlin. Bis 27. November, 2011

■ Katalog: W. Eugene Smith. Kehrer Verlag, Heidelberg 2011. 240 S., 175 S/W-Abb. , 39,80 Euro