Immer Räuber, nie Gendarm

KINO IM GEFÄNGNIS Diana Näckes Langzeitbeobachtung „Meine Freiheit, deine Freiheit“ lief in der JVA Lichtenberg

Die Frauen in Lichtenberg wollen nach der Aufführung nicht über den Film reden. Erst mal rauchen

VON ENRICO IPPOLITO

Zwei Frauen. Beide im Gefängnis. Beide drogenabhängig. Und beide kurz davor, aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Berlin-Lichtenberg entlassen zu werden. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.

Kübra ist Anfang 20. Seit sie elf Jahre alt ist, ist sie kriminell auffällig. Als Kind wollte sie immer Räuber, nie Gendarm sein. In Lichtenberg misshandelt sie eine andere Frau. Nach vier Jahren und zwei Monaten darf sie endlich den Knast verlassen.

Salema, Anfang 40, hat ihre Eltern während des äthiopischen Bürgerkriegs verloren. In Deutschland erlebt sie einen „Kulturschock“, wird mit zwölf Jahren schwanger – von einem älteren Mann. Das Kind musste sie zur Adoption freigeben. Mit 15 Jahren beginnt sie Heroin zu spritzen, aus Liebe. Ihre Partnerin war abhängig, und sie wollte in der gleichen Welt leben.

Auf dem kleinen Fernseher

Dienstag Mittag. Berlin-Lichtenberg. Die JVA ist ein großer Komplex. Etwa 100 Insassinnen sind hier inhaftiert, es ist die größte Anstalt für Frauen in Berlin. Diana Näckes Film wird den anderen Frauen in der Anstalt gezeigt. Die Räume wirken eng, die Luft ist stickig. Jede Tür abgesperrt, nur durch große Schlüssel zu öffnen. An den Wänden hängen Bilder von den Frauen, doch die Malerei erhellt nicht das Ambiente, die gelbliche Wandfarbe genauso wenig. Es soll einigermaßen wohnlich aussehen. Der große Gemeinschaftsraum ist spartanisch eingerichtet. Letzte Woche gab die Berliner Musikerin Cora Lee ein Konzert hier. Das Plakat hängt noch. Nun läuft Näckes Film auf dem kleinen, an der Wand befestigten Fernseher. Nur zwei der Frauen kennen Kübra noch. Als Salema im Film in der JVA Drogen nimmt, schreit eine entsetzt: „Ist das hier im Knast?“

Diana Näcke hat Salema und Kübra für ihren Dokumentarfilm „Meine Freiheit, deine Freiheit“ drei Jahre lang begleitet. Doch nicht nur sie spielen eine Rolle, auch Matthias Blümel ist Protagonist. Der Regierungsrat und Leiter der JVA für Frauen träumt davon, den Knast mal für einen Paar Tage dichtzumachen. Beide Frauen finden Blümel besonders. Salema hält ihn für einen „Hippie“, trotzdem übt er Macht aus. Keine Entscheidung, die er nicht absegnet. In seiner Freizeit fliegt der JVA-Leiter mit seinem Segelflugzeug – Kübra darf ihn sogar einmal begleiten.

Was heißt Freiheit für diese Frauen? Für Kübra hat es was mit Gerüchen zu tun. Eine Erinnerung an Bauernhöfe in der Türkei. Salema hat hingegen Angst, weiß nicht, wie sie draußen weiterleben soll.

Näckes Film ist nie pathetisch, nie pädagogisch. Sie konzentriert sich ganz auf die Geschichten. In „Meine Freiheit, deine Freiheit“ treffen nicht Gut und Böse, Täter und Opfer, Schwarz auf Weiß aufeinander – das ist das Einzigartige an Näckes Dokumentararbeit. Ihre Protagonisten sind vielschichtig.

Salema und Kübra haben in Lichtenberg viele Jahre verbracht, jeden Tag sind sie durch diese Gänge gegangen. Matthias Blümel kommt jeden Tag zur Arbeit nach Lichtenberg. Verbittert wirkt er nicht. Er gehört zu denen, die das ganze „absurde System“ auch mal offen hinterfragen. Was bringt es eigentlich, Menschen wegzusperren?

Frische Spritzen

In Lichtenberg ist nicht alles schwarz-weiß. Hier kommen Frauen mit Drogenproblemen hin und „straffällige“ Mädchen. In der Halle steht ein Spritzenautomat. Blümel möchte den Automaten nicht entfernen. Jedes Gefängnis habe mit Drogenproblemen zu kämpfen, sagt er. Die frischen Spritzen sollen Infektionen wie HIV und Hepatitis vorbeugen. Drogenkonsum wird trotzdem nicht toleriert. Das ist das Paradox.

Die Sanktionen können hart sein, gar zur Unterbringung in den „besonders gesicherten Haftraum“ führen. Die Frauen in Lichtenberg nennen die kahle Zelle „Bunker“. Blümel zeigt diesen Bunker, der nur verantwortungsvoll bei Suizidgefahr oder aus medizinischen Gründen wie Entzug verwendet werde – sagt er. Das Bett ist in den Boden eingegossen, an jeder Seite drei Einmündungen, an denen die Frauen gefesselt werden können, an der Decke Kameras. Kübra hat, so rechnet sie es im Film vor, insgesamt bestimmt sechs Monate im „besonders gesicherten Haftraum“ verbracht.

Die Frauen in Lichtenberg wollen nach der Aufführung nicht über den Film reden. Erst mal rauchen. Für sie ist Freiheit das Ziel. Doch Näcke zeigt gerade, wie schwierig das Leben in Freiheit sein kann. Die Frauen müssen den Hof verlassen. Die Zigaretten sind aufgeraucht. Zurück in ihre Zelle. Im Vorbeigehen sagt eine von ihnen zu Diana Näcke: „Hast du toll gemacht.“

■ „Meine Freiheit, deine Freiheit“. Regie: Diana Näcke. Dokumentarfilm, Deutschland 2011, 84 Min. In den Kinos Zukunft und Acud