Historische Schlappe in luftiger Höhe

Trotz eines 1:6 in Bolivien steht Argentiniens Nationaldenkmal und -trainer Maradona weiter fest auf seinem Sockel

BUENOS AIRES taz ■ Diego Maradona rang um Fassung: „Man muss noch mal ganz von vorne anfangen.“ Die Seinen hatten gerade eine 6:1-Niederlage gegen Bolivien kassiert. „Jeder Treffer war ein Stich ins Herz“, so der Coach der Argentinier.

Nach der historischen Schlappe sind die Aussichten der Albiceleste, sich für die WM 2010 zu qualifizieren, nicht mehr so rosig. Nach zwölf Spieltagen stehen die Argentinier auf Rang vier der Tabelle. Der reicht zwar für die direkte Qualifikation, aber der Abstand zum Fünften, Uruguay, beträgt gerade mal zwei Punkte.

Die argentinische Seele braucht die Extreme, da blüht sie auf. Zu Tode betrübt oder himmelhoch jauchzend. Wie letzten Samstag. Da hatten sie im Stadion Monumental in Buenos Aires die Venezolaner nach einer Klassepartie mit 4:0 nach Hause geschickt. Es war das erste Spiel des Nationaltrainers Diego Maradona auf heimischem Rasen. Und es war ein Fußballfest, bei dem Lionel Messi und Carlos Tevez in einer Traumkombination den schönsten Treffer herausspielten. Danach wurde öffentlich schon vom Titelgewinn in Südafrika im kommenden Jahr geträumt.

Und jetzt der Absturz in 3.660 Meter Höhe der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Etwas Ähnliches gab es zuletzt von 16 Jahren, als die Kolumbianer bei der WM-Qualifikationsrunde 1993 die Albiceleste mit 5:0 in Buenos Aires abfertigten. Und einen Sechserpack gab es zuletzt 1958 bei der WM in Schweden gegen die Tschechoslowaken. Dieses 1:6, die höchste Niederlage einer argentinischen Mannschaft, ging als „schwedische Tragödie“ in den Annalen des Fußballverbandes AFA ein. „Untergang in La Paz“ steht aktuell auf der Webseite der AFA.

„Die Höhe war nicht schuld“, so Mannschaftskapitän Mascherano. Eine Blitzumfrage der Zeitung La Nacíon bestätigte ihn. 80 Prozent stimmten zu: Die Höhe war’s nicht. Wie Martín Demichelis bereits in der 11. Minute am eigenen Sechzehner den Ball gegen den Bolivianer Marcelo Martins verstolperte, hatte Meeresspiegelniveau: 1:0 für Bolivien. Aber der Münchner Abwehrspieler, der gegen Venezuela wegen einer Gelbsperre noch auf der Bank saß, war nicht der Einzige, der neben sich stand.

Am Debakel hatte die komplette argentinische Abwehr ihren Anteil und Torhüter Carrizo, der mehrfach den Ball nicht richtig zu fassen bekam. Zwar schaffte Lucho Gonzalez in der 24. Minute den Ausgleich, aber mit einem Elfmeter eröffnete Joaquin Botero seinen Hattrick, den Alex Rodrigo Da Rosa und Didi Torrico zum 6:1-Endstand ergänzten.

War es das 4-4-2-System, das der Coach installiert hatte? Gegen Venezuela ließ Maradona die Mannschaft noch mit einer Dreierkette in der Abwehr spielen, das Mittelfeld machte mit einer Viererreihe Druck nach vorne, und der dreiköpfige Sturm schoss ein. Doch die Systemfrage steht nicht im Mittelpunkt: „Es fehlte der Dirigent im Mittelfeld“, so der Tenor der Kritik.

Juan Román Riquelme, der Mittelfeldregisseur der Boca Juniors, hatte vor wenigen Wochen seinen Rücktritt aus dem Nationalteam erklärt. Er könne unter einem Trainer Maradona nicht spielen, so die knappe Erklärung des eigensinnigen Spielers, mit der er Fußballargentinien vorübergehend in eine tiefe Depression gestürzt hatte: „Es schmerzt, aber ich werde nicht weinen“, gab sich Maradona trotzig.

Und gegen Venezuela war Riquelme tatsächlich für 90 Minuten komplett vergessen. Nach dem Untergang vom Mittwoch aber rief ein argentinischer Fan in die Reportermikrofone: „Bei der Qualifikation für Deutschland 2006 haben wir in La Paz 2:1 gewonnen – und Riquelme war dabei.“ Dass der diesmal in La Paz nicht auf dem Platz stand, kann aber niemand dem Trainer ankreiden. JÜRGEN VOGT