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Paul Kimmages Interviews zeigen Sportstars in Nahaufnahme. Die Bilder, die der Ire zeichnet, sind fast immer gestochen scharf

Operation am lebenden Objekt

Paul Kimmage ist ein Schreiber, der offenbar weniger Angst hat als viele seiner Kollegen. Auch vor Lance Armstrong hat der Ire keinen Schiss. Der siegeshungrige Radprofi aus Texas hat einmal geschimpft, dieser Kimmage sei „nicht den Stuhl wert, auf dem er sitze“, weil der es gewagt hatte, ihn, den mehrmaligen Toursieger und mutmaßlichen Dopingsünder, als den „Krebs des Radsports“ zu bezeichnen.

Kimmage will sich nicht begnügen mit Floskeln, Oberflächlichkeiten, dem ganzen Gewäsch der Sportstars, das täglich auf uns niederprasselt. Er fragt nach, lässt sich Zeit und steuert meist ziemlich genau auf den Abgrund zu, der sich in der Seele seiner Stars auftut. Kimmage ist ein Enthüllungsjournalist menschlicher Motivlagen. Er ist im Auftrag der englischen The Sunday Times unterwegs. Manchmal entsprechen die von Kimmage mit scharfem Skalpell freigelegten Motive auf etwas plumpe Art und Weise einem Reiz-Reaktions-Schema, einer allzu direkten Kausalität, aber dennoch kommt er den berühmten Sportlern erheblich näher als der große Rest, der auf solche Operationen verzichtet.

Dieser Reporter sucht Nähe, so viel ist klar. Während Kimmages Kollegen die Sportler oft nur von Ferne beobachten, geht er auf Expeditionen ins schroffe Gebirge des Startums. Die Gratwanderung, rechts klafft die Schlucht der Anbiederei, links der Schrund symbiotischen Verstehens, gelingt dem Iren nicht immer. Manchmal rutscht er ab. Dann fehlt ihm die Distanz, etwa wenn es zu einer reinen Glaubensfrage wird, ob ein Radsportler sauber ist oder nicht. In manchen Passagen seines Buches „Talk don’t run“, das Kimmages beste Interviews versammelt, will er seinem Gegenüber unbedingt glauben, vielleicht weil er sich hat einlullen lassen oder sich nur schwer von einer apriorischen These lösen kann.

Man darf nicht vergessen, dass diese Typen, ob sie nun Boris Becker oder Flavio Briatore heißen, Charismatiker und PR-Spezialisten in eigener Sache sind. Sie wissen genau, was wann wie zu sagen ist. Kimmage muss sich also erst durch das Werbegesülze wühlen, er muss sich gegen die Manipulationsversuche dieser Super-Egos wehren und dann, wenn er Glück hat, seine Interviewpartner in einem schwachen Moment „erwischen“. Auf diese Sequenzen des „Knackens der harten Schale“ hat Kimmage sich spezialisiert. Er will Masken abreißen. Das kann ermüdend sein. Es ist jedenfalls nicht zu empfehlen, dieses Buch, in dem sich der Autor auch so manche Eitelkeit gönnt, in einem Rutsch durchzulesen. Dafür ist seine Masche zu offensichtlich.

Das Buch ist trotz der kleineren Schwächen sehr zu empfehlen, weil der Autor, wie gesagt, näher dran ist am Sportstar als üblich – und weil klar wird, dass Tony Adams, der ehemalige Fußballer, Ronnie O’Sullivan, der Snooker-Profi, oder Greg LeMond, der erste amerikanische Sieger der Tour de France, Getriebene sind, Opfer einer Obsession, die in ihrer Kindheit wurzelt. Menschen, die mit sich im Reinen sind, quälen sich wohl kaum tagtäglich. Es geht Kimmage, wie er schreibt, um „die Dämonen, die sie (die Sportikonen) auf Trab halten“.

Paul Kimmage hat es ja selbst durchgemacht, das harte Leben des Leistungssportlers. Er war Radrennfahrer, nahm sogar an der Tour de France teil. Nach seinem Karriereende legte er in Buchform eine beeindruckende Dopingbeichte vor, die ihm den Weg in den Sportjournalismus ebnete. So gehören die Interviews mit Radsportlern zu den gelungensten. Hier hat man das Gefühl, Kimmage kann, weil er sich vollkommen zu Hause fühlt, auf kleine Taschenspielertricks verzichten.

Ein großes Interview fehlt dem Iren freilich noch – das mit Lance Armstrong. Der siebenmalige Tour-Gewinner hat es bis dato abgelehnt, sich von Paul Kimmage interviewen zu lassen. Hat Armstrong etwa Angst davor, entlarvt zu werden?

MARKUS VÖLKER

Paul Kimmage: „Talk don’t run – Sportstars im Kreuzverhör“. Covadonga, Bielefeld, 350 Seiten, 14,80 Euro