Starke Mannschaft, halbstarke Fans

REGIONALLIGA NORD Ruhig am Ball, sicher im Spielaufbau, effektiv: Die Fußballer von Holstein Kiel zeigen beim 2:1-Auswärtssieg gegen den FC St. Pauli II, warum sie derzeit an der Spitze der Tabelle stehen

Die Spieler von Holstein Kiel sind abgeklärt, effektiv, sicher und in der Abwehr konsequent

Aha – so ist das also. Wenn bis auf 1.234 Zuschauer keiner da ist im Stadion am Millerntor und die Fans der Gastmannschaft lauter sind. Und nackt. Oben rum. Auf den Anblick hätten wir gut verzichten können. Die zweite Mannschaft des FC St. Pauli kickte am Samstag gegen den Tabellenführer der Regionalliga Nord, Holstein Kiel, der am Mittwoch den kriselnden Zweitligisten MSV Duisburg mit 2:0 aus dem DFB-Pokal geschubst hatte. Deshalb grölten die halbnackten Kieler Fans „Europapokal, Europapokal“, 90 Minuten lang. Von was, bitte, träumen die nachts?

Sie grölten auch „die Nummer eins im Land sind wir“. Das ist annähernd richtig. Ganz richtig wäre: „Die Nummer eins auf dem Land sind wir.“ Auch ein bisschen Pyrotechnik hatten sie mitgebracht und führten sich auf wie Halbstarke.

Ihre Mannschaft ist bei mehr als 50 Prozent Stärke: ruhig am Ball, sicher im Spielaufbau, abgeklärt, profihaft, effektiv, in der Abwehr konsequent. Und dann und wann gibt es ein kerniges Foul.

Die Kieler sind körperlich größer und erfahrener als die bis auf den Ex-Kieler Hauke Brückner, 31, Pierre Becken, 24, und den Ex-Kieler Timo Schultz, 34, junge Mannschaft des FC St. Pauli.

„Am Anfang“, sagte Kiels Trainer Thorsten Gutzeit nach dem Spiel, „haben wir es gut hinbekommen.“ St. Pauli machte zwei Fehler und schon führte Kiel mit 2:0 durch Marc Heider (24.) und Jaroslaw Lindner (35.). St.-Pauli-Trainer Jörn Großkopf nannte die Fehler „brutal“ und Keeper Arvid Schenk, 22, war kurz davor, vor Wut seine Handschuhe zu essen. Kiel war überlegen, bestimmte das Tempo, die Spieler des FC St. Pauli mussten viel laufen und meistens hinterher.

Das änderte sich in der zweiten Hälfte. Den Kielern wurden die Beine schwer, das Spiel gegen den MSV hatte Kraft gekostet. Gutzeit hatte sein Team gewarnt, „aber da kann man so viel reden, wie man will, es nützt nichts“.

Gewarnt hatte Gutzeit vor der Serie des FC St. Pauli: drei Siege, ein Unentschieden. Es sei in den Tagen nach dem Erfolg gegen Duisburg schwer gewesen, „die Mannschaft auf das Spiel gegen den FC St. Pauli zu fokussieren“. Holstein Kiel, das im nächsten Jahr vor 100 Jahren deutscher Fußballmeister war, ruhte sich aus und plötzlich hatte der FC St. Pauli etwas, was es in der ersten Halbzeit selten gegeben hatte: Torchancen.

Die wurden umso besser, je länger das Spiel dauerte. Der eingewechselte Erdogan Pini, 19, und der 21-jährige Kristof Kurczynski bekamen den Ball nicht an Kiels Keeper Morten Jensen vorbei. Der 20-jährige Christopher Braun, talentierter rechter Verteidiger des FC St. Pauli, der auch flanken und schießen kann, ballerte die Kugel links vorbei.

„Gut“, fand Gutzeit, „dass der Anschlusstreffer so spät fiel.“ In der 90. Minuten packte Becken seine Energie in ein Solo, das im Kieler Strafraum mit einem Foul endete, das Schiedsrichter Steffen Hösel (Rövershagen) mit einem Elfmeter ahndete.

Fousseni Alassani, 20, verwandelte. „Wenn der Anschluss in der 80. Minute fällt, kann es eng werden“, sagte Großkopf. Wenn Holstein Kiel Schwächen hat, war der FC St. Pauli am Samstag nicht in der Lage, sie zu finden.

ROGER REPPLINGER