Flickflack aus der Nische

SHOW Italien schwärmt für das Geräteturnen, seit eine Reality-Soap den Alltag junger Athletinnen abbildet. Sie sind längst Idole. Immer mehr Mütter melden ihre Töchter bei den Trainingszentren des Landes an

AUS BRÜSSEL SANDRA SCHMIDT

Vor ihrer Balkenübung bei der Turn-EM in Brüssel schwingt Carlotta noch mal das Bein in die Höhe, gestreckt nach vorn, seitlich ans Ohr, nach hinten über den Kopf. Aus kurzer Entfernung folgt eine Handkamera all ihren Bewegungen. Die Italienerin Carlotta Ferlito, genannt Carlo, ist Silbermedaillengewinnerin der letztjährigen EM und mittlerweile Star der Reality-Soap „Ginnaste – Vite Parallele“, die der Spartensender MTV Italia produziert. Die Kamera wird auch heute, wenn Carlotta und ihre Kolleginnen im Teamfinale antreten, dabei sein, beim Frühstück, beim Schminken, beim Aufwärmen und im Wettkampf.

„Das, was wir bei einem Wettkampf einfangen, besonders zwischen Trainern und Turnerinnen, das ist unglaubliches Material“, sagt Rachele Fontanesi, Produktionsleiterin von MTV, „erst recht, wenn man die Vorgeschichte kennt.“ Im Wettkampf bemerke sie die Kameras gar nicht, sagt Carlotta im Interview – das ebenfalls mitgedreht wird. „Aber sonst gibt es schon Momente, da wäre ich lieber alleine. Das sage ich dann, und es wird respektiert.“

Die Kameras sind nicht nur bei Wettkämpfen dabei, das gesamte Leben der 14- bis 20-jährigen Turnerinnen, die in Mailand trainieren und zusammenleben, wird aufgezeichnet – Schule, Shopping, Friseur. Es gibt keine gestellten Szenen, die Drehbücher entstehen erst nach Sichtung des Materials. Auch Momente der Verzweiflung oder der Angst im Training werden in den täglich ausgestrahlten 20-minütigen Folgen nicht ausgespart. Was als kuriose Idee seinen Anfang nahm, sorgt seit Ausstrahlung der ersten Staffel im letzten Herbst in Italiens Turnszene für großes Aufsehen.

Quoten werden für den kleinen Sender nicht erhoben, aber der unerwartete Erfolg ist messbar: Über 70.000-mal wurden einige Episoden auf der MTV-Seite abgerufen, Carlottas Facebook-Fanpage gefällt 35.000 Menschen. Doch die Auswirkungen beschränken sich nicht auf die Netzwelt. Zu den Ligawettkämpfen in Italien, die bislang eher wenige Zuschauer zählten, kamen in diesem Jahr mehr als 5.000 Menschen, beim Verband gingen in wenigen Tagen Dutzende Anrufe von Müttern ein, um die eigenen Töchter zum Turnen anzumelden. „Nach so vielen Entbehrungen ist es schon eine schöne Sache, wenn so viele Menschen plötzlich das Turnen wahrnehmen und einem zujubeln“, sagt die 17-jährige Sizilianerin, die vor fünf Jahren von Catania nach Mailand ging.

Auf die Frage, ob die ständige Begleitung ihr Verhalten beeinflusse, antwortet Carlotta entschieden: „Nein! Es ändert sich nichts. Ich bin ich, und die Kameras sind die Kameras.“ Sie erklärt, dass das Fernsehen gerne bestimmte Szenen sendet, zum Beispiel jene, in denen sie sich mit Trainer Paolo Bucci laute und hitzige Debatten liefert. „Da geht es um die Show, nicht um das Training als solches.“ Das gewöhnliche Leben einer Turnerin sei für die Welt da draußen Show genug.

Der verantwortliche Trainer des Mailänder Zentrums, Paolo Bucci, sieht das Ganze gelassen. Im Training ändere sich gar nichts – und wenn, dann zum Guten. Denn „wenn die Mädchen die Kameras wahrnehmen, dann strengen sie sich eher noch mehr an.“

Der italienische Verband stützt das Unternehmen. Zwar gehen die Folgen ohne vorherige Kontrolle auf Sendung, aber es besteht eine Vereinbarung, „das Turnen nicht negativ darzustellen“, erklärt Pressesprecher David Ciaralli. Für die zweite Staffel läuft in Italien momentan eine riesige Werbekampagne, mit überlebensgroßen Plakaten, von denen Carlo lächelt. Die erste Folge ist morgen, während das Balkenfinale läuft. Das hat Carlotta um 0,009 Punkte verpasst. Die Kamera wird dabei sein, wenn sie zuschaut. Für die Soap eine gute Geschichte, für die Turnerin Ferlito nicht.