„Wer widerspricht denn noch?“

Wie will Hermann Scheer (57) leben? Der streitbare Bundestagsabgeordnete (SPD) und Solarenergie-Experte fordert eine „Ressourcenbewegung“ und wünscht sich, dass die BürgerInnen nicht ohne Widerspruch all das hinnehmen, was die Atomkraftlobby sie gerne glauben machen will

Interview NICK REIMER

taz: „Die Umweltbewegung ist tot, lang lebe die Spaßgesellschaft.“ Wie finden Sie diesen Satz, Herr Scheer?

Hermann Scheer: Nicht besonders originell. Das allgemeine Verständnis von „Bewegung“ ist sehr oberflächlich geworden. Es sagt: Bewegung ist dann, wenn es Massendemonstrationen gibt. Bewegung kann aber auch ganz anders verstanden werden.

Nämlich?

Bewegung ist auch, wenn viele Menschen gleichzeitig etwas bewegt. Unglaublich viele in unserer Gesellschaft engagieren sich – weil sie etwas bewegt – auf unspektakuläre Weise. Das ist sozusagen eine stille, nach außen wenig sichtbare Bewegung. Bei der Umweltbewegung denkt man immer an das Erste. Das ist aber eine verkürzte Sicht.

Zumindest vor zehn, fünfzehn Jahren haben Massenaktionen Erscheinungsbild und Charakter der Umweltbewegung geprägt.

Das stimmt sicherlich. Es war die Zeit, in der die großen „Neins“ formuliert wurden: Nein zu Atomkraft, Nein zur Dünnsäureverklappung, Nein zur Müllflut, Nein zu Brokdorf. Klar ist aber, dass sich eine derart organisierte Massenbewegung nicht über Jahrzehnte aufrechterhalten lässt.

Warum denn nicht?

Weil man ehrenamtliche Arbeit nicht zehn Jahre lang mit gleicher Intensität betreiben kann.

Aber es gibt sie doch noch, die großen Nein-Probleme, die eigentlich Organisiertheit erfordern.

Natürlich: Das ganze konventionelle Energiesystem ist ein Nein-Fall. Die chemische Industrie verlangt – wie sie heute funktioniert – ein klares Nein. Sanken nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation überall die Rüstungsetats, erleben wir heute, wie sie wieder steigen. Die Nato fühlt sich inzwischen überall bedroht. 60 Prozent aller Rüstung weltweit vereint sie auf sich. Welch eine Fehllenkung von Ressourcen mit so mieser Begründung! Ein klassischer Nein-Fall.

Wenn die Nein-Themen so offensichtlich sind – warum gibt es dann die Nein-Bewegung nicht mehr?

Nein-Bewegungen funktionieren auf Dauer nicht. Wir haben doch heute folgendes Problem: Jeder weiß, was los ist. Gleichzeitig hört aber jeder täglich von denen, die für die Probleme verantwortlich sind, es gebe keine Alternative. Wer das glaubt, kann nur zu dem Schluss kommen, die Probleme sind tatsächlich nicht lösbar. Wie kann man aber erwarten, dass sich Leute für oder gegen etwas engagieren, das als nicht als lösbar gilt. Menschen engagieren sich nur für eine Perspektive. „There is no alternative“, hat Margret Thatcher einmal gesagt. Das ist psychologisches Dumping zur Entmündigung von Menschen! Alternativen müssen aufgezeigt werden – so konkret es irgend geht . . .

. . . genau daran mangelt es aber.

Das liegt am verlorenen Selbstbewusstsein der Umweltbewegung. Sie traut sich nicht mehr zu, umfassende Alternativkonzepte zu entwickeln. Es gibt heute eine Fülle von Literatur, die die ökologischen Krisen mit all ihren Folgen beschreibt. Viele Leute haben aber die Nase voll, immer nur mit Krisen konfrontiert zu werden. Wenn Umweltbewegung die Katastrophen immer nur beschreibt ohne überzeugende Lösungen anzubieten, lässt sie die Leute allein.

Warum gelingt es der Ökobewegung nicht, Lösungen anzubieten?

Auf ein überlebensgroß erscheinendes Problem kann man nicht mit Klein-Klein antworten. Aber genau darauf beschränken sich heute viele. Sie backen zu kleine Brötchen. Zudem hat sich Umweltbewegung zu sehr spezialisiert. Die Schwerpunkte sind technisch, technologisch anspruchsvoller – detaillierter – geworden, aber die große Perspektive wird zu wenig artikuliert.

Was ist falsch an Sachverstand?

Sicherlich muss man vielen Problemen mit spezieller Expertise begegnen. Wer Alternativen präsentieren will, braucht auch ein technisches Grundverständnis, um den Argumenten, warum etwas nicht gehen soll, qualifiziert widersprechen zu können. Man darf aber durch die Spezialisierung nicht die Gesamtdimension aus den Augen verlieren. Genau das passiert aber heute.

Wie hat sich die grüne Regierungsbeteiligung ausgewirkt?

Nicht so wie in Amerika. Dort haben die Umweltverbände in der Clinton/Gore-Zeit die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Viele dachten: Jetzt haben wir die Regierung, die wir schon immer haben wollten. Unser Fahnenträger Al Gore wird es schon richten. Praktisch wurde keine der Erwartungen eingelöst. Die Umweltbewegung aber hatte Beißhemmungen, ihre Fahnenträger zu kritisieren. Das Ergebnis: Die amerikanische Umweltbewegung wurde sprachlos. Diese überdimensionierten Erwartungen gab es in Deutschland nicht. Ich halte es auch für falsch, wenn sich Nichtregierungsorganisationen zu sehr an eine Regierung binden. Das gilt auch für die Umweltbewegung im Verhältnis zu den Grünen. Umweltbewegung darf niemals Beißhemmungen bei Konflikten haben.

Andererseits hatte die grüne Partei in der Opposition auch nie Hemmungen, Umweltprobleme anzusprechen.

Parlamentarisches und außerparlamentarisches Handeln sind völlig verschiedene Rollen. Eine Initiative, die gesellschaftliches Bewusstsein schaffen will, darf sich nicht in den politischen Kompromissbildungsprozess einbinden lassen, der im Parlamentarismus unerlässlich ist. Das ist aktuell das Problem mancher Organisationen, die für ein Kioto-Protokoll werben, das vorwiegend aus Schlupflöchern besteht.

Was sind die Themen der Zukunft, die sich Umweltbewegung auf ihre Agenda schreiben muss?

Nach meiner Überzeugung muss Umweltbewegung in viel stärkerem Maße eine Ressourcenbewegung werden. Die Themen der Zukunft sind erneuerbare Energie, Wasser, Boden und Luft – Schonung und Erhaltung der Ressourcen also. Daraus folgt automatisch zwingend eine andere Wirtschaftspolitik. Wirtschaft ist ohne Ressourcenverbrauch gar nicht denkbar. Alle Umweltprobleme hängen mit dem falschen Umgang oder der falschen Wahl von Ressourcen zusammen. Also ist die Ressourcenwirtschaft der Kern des gesamten Problems.

Anfang des dritten Jahrtausends heißt es überall, man müsse sich „fit für die Zukunft machen“. Wie kann die Umweltbewegung das tun?

Wer Zukunftsgestaltung ohne Ökologie machen will, ist bestenfalls ein Traumtänzer. Insofern ist Umweltbewegung per se „Fitmachen für die Zukunft“.

Kaprizieren Sie sich mal nicht auf den philosophischen, sondern auf den strukturellen Gehalt!

Umweltbewegung muss wieder politischer denken. Sie muss die Strukturfragen aufgreifen, die mit dem jetzigen zerstörerischen Ressourcensystem verbunden sind. Es gibt heute viel zu wenig Kritik an der Liberalisierung der Energieversorgung. Es gibt viel zu wenig Kritik an der Konzentration der Ressourcenwirtschaft, die diametral dem Ziel der Organisierung ökologischer Kreisläufe entgegensteht. Solcherlei politische Dimension ist der Umweltbewegung zu stark verloren gegangen.

Wie lässt sich das revitalisieren?

Durch Widerspruch! Wie viele Leute widersprechen denn heute noch? Da stellt sich zum Beispiel die Kernkraftlobby nach Unterzeichnung des Atomkonsenses hin und sagt: Regenerative Energien können immer nur additive Bedeutung haben, aber nie die herkömmliche Energien ersetzen. Jeder weiß: Ohne Energie geht nichts. Also sagt die Kernkraftlobby: Atomare und fossile Energien sind unverzichtbar. Nur wenige haben widersprochen. Ohne Widerspruch nehmen das die Leute hin – sie glauben es einfach.

Wissenschaftliche Arbeiten der Umweltbewegung belegen immer wieder das Gegenteil. Warum mangelt es der Umweltbewegung in anderen Bereichen – Trinkwasser, Klimaschutz, Ressourcenverbrauch – an solchen fundierten Arbeiten?

Weil die Problemlage nicht ausreichend bewusst ist. Ich bin aber optimistisch, dass sich das ändern wird. Am Anfang jeder Bewegung steht, dass ein Groschen fällt. Daraus können sich Massenprozesse entwickeln.

Woher der Optimismus?

Die richtige Idee lässt sich auf Dauer nicht vertuschen. Die Mindestvoraussetzung ist allerdings, dass sie artikuliert wird. Daran müssen wir arbeiten.