Das territoriale Prinzip

In Lucía Puenzos Roman „Das Fischkind“ flüchten zwei junge Frauen aus dem Zentrum an den Rand der argentinischen Gesellschaft. In Sergio Olguíns Mafiaroman „Zurück nach Lanús“ kommen sie nie aus der Peripherie von Gran Buenos Aires heraus

VON ANDREAS FANIZADEH

Lucía Puenzo ist eine der auffälligsten jungen Autorinnen aus Argentinien. Und zugleich eine der auffälligsten neuen Filmemacherinnen des südamerikanischen Landes. 2007 hatte sie mit dem Film „XXY“ international Aufmerksamkeit geweckt, nun stellte sie im Februar auf der Berlinale die Verfilmung ihres Debütromans „El niño pez“ vor. Während „El niño pez“ noch nicht im deutschen Kino zu sehen sein wird, erscheint ihr Roman in deutscher Übersetzung im März, „Das Fischkind“. Und dieser Roman, dieses „Fischkind“, hat es in sich.

Nicht nur der Stoff ist spannend – paraguayische Hausangestellte und argentinische Oberschichtentochter verlieben sich, Hausherr wird ermordet, die jungen Frauen sind auf der Flucht –, die literarische Umsetzung überzeugt. Die Furcht vor dem, was sich oftmals ausschweifend und kitschig „magischer Realismus“ nennt, ist unbegründet: Puenzos Stil und Haltung ist hart, direkt, surrealistisch, universell, schnell und gefährlich.

Dabei mag zunächst skeptisch stimmen, dass Puenzo ihre Geschichte immer wieder aus der Perspektive eines Hundes kommentieren lässt. Doch der Hund Serafin – eine räudige, neugierige, geile Promenadenmischung – verleiht dem zunächst in der High-Society von Buenos Aires angelegten Werk eine angenehme Leichtigkeit. Die Perspektive des Hundes, seine schlechten Manieren und despektierlichen Kommentare verleihen der Erzählung einen antiautoritären Charme. Der Hund am Rande beobachtet Liebesszenen genauso, wie er später in größere Schusswechsel gerät.

„Ich (Serafin/der Hund, d. A.) wartete, unterm Bett liegend, in ihrem Zimmer auf sie. Ich verharrte an meinem Platz, bis Guida (der Wachmann, d. A.) die Tür geschlossen hatte und das Licht ausgeschaltet hatte. – Ejerur chéve la reipotáva. Ko éhte día otoka ndéve… – sprach die Guayi (die Hausangestellte, d. A.) auf ihn ein und zog ihn dabei aus. – Siempre otoka chéve. Otoka ndéve –, antwortete Guida. Wie ich diese dunklen Momente vermisse, voller Liebesgeflüster auf Guaraní! Sie bat ihn, er möge sie Senorita Lala (die Oberschichtentochter, d. A.) nennen… und zwang ihn ein ums andere Mal dazu.“ Story und Puenzos Heldinnen sind ungewöhnlich, ebenso der kompromisslose, an Autoren wie Sergio Bizzio erinnernde, szenische Schreibstil.

In südamerikanischen Oberschichtenhaushalten leben Dienende und Bediente oftmals eng zusammen, pubertierende Hausangestellte werden mit den Kindern der Herrschaft gemeinsam erwachsen. Auch wenn nicht alles Kolonialismus ist, Puenzo nimmt den klassischen Stoff – weißer Herr, braune Magd – als Ausgangpunkt. Die indigen-paraguayische Hausangestellte Guayi wird in der Erzählung zur lasziv eigensinnigen Domina der Brontës. Sie beherrscht mit ihrer selbstbewussten Sinnlichkeit und Rationalität Haushalt, Hund, Wachmann, Oberschichtentochter Lala sowie den zynisch-depressiven Neopaternalisten Brontë.

Die Hausherrin ist abwesend – auf Trip in Indien –, Jugendliche und Vater orientierungslos. Lalas Bruder dealt und sammelt vor allem Rauscherfahrungen, der intellektuelle Hausherr erscheint als egoistische, seelenlose Hülle. Die Körperlichkeit von Guayi zeigt Lala im Oberschichtengefängnis von Buenos Aires eine neue Möglichkeit, weckt die scheinbar grenzenlose „paraguayische“ Sehnsucht in ihr. Paraguay, das sehr stark indianisch geprägte Nachbarland Argentiniens, sowie die städtische Umgebung von Buenos Aires verschmelzen zum Mythos einer Selbsterfindung zweier durch Klassen und Herkunft ansonsten getrennten jugendlichen Frauen.

Guayi und Lala nehmen sich ihre Liebe, sie nehmen das Geld des Vaters und auch sein Leben. Geld und Mythos, ihr gelebter Existenzialismus richtet sich vom urbanen intellektuellen Zentrum weg und richtet sich auf einen imaginären Fluchtpunkt in der paraguayischen Provinz.

Im Hause Brontë fasziniert Lala das Guarani der Guayi. Guarani, neben Spanisch die zweite Amtssprache Paraguay, steht für die Sinnlichkeit und das exotistische Interesse der Ober- an der Unterschicht, aber eben auch für Selbstbehauptung und eigenes Codesystem. Guarani, so sagt es Puenzo, klinge für sie wie „der Gesang von Vögeln“. Und so lernt Lala, die Oberschichtentochter, schließlich auch fliegen.

Etwas traditioneller, aber nicht minder gegenwärtig und erkenntnisreich, erscheint die Lektüre von Sergio Olguíns „Zurück nach Lanús“. Aus einer sehr männlichen Erzählperspektive verläuft die Entwicklung der Geschichte gegenläufig zu Puenzos „Fischkind“. Ungewürzt von Oberschichteneinflüssen und Kontakten bleibt Olguíns Roman-Ensemble an der Scholle von Gran Buenos Aires kleben, gebunden an ihre territorial geprägte Herkunft.

Sexualität, Biopolitik, scheint so noch die wahrscheinlichste Möglichkeit, um vielversprechende Kontakte zu knüpfen, um jemand aus einer anderen Gegend und dem Angestelltenmilieu kennenzulernen. Der einzige der jungen Männer, die es aus der vorstädtischen Halbwelt den Absprung in die Stadt Buenos Aires geschafft haben, ist der Transsexuelle Raphael.

Der auf Buenos Aires, das urbane Zentrum, zielende Fluchtpunkt wird von ihnen fast nur materiell gedacht und damit zu klein, um wirklich auszubrechen. Olguíns Personal fehlt eine mythische und transzendierende Idee der Selbstermächtigung, wie sie Puenzo im „Fischkind“ mit der Chiffre des Paraguayischen schuf. Die Wege führen so bei Olguín immer wieder und konsequent nach Lanús zurück, einem der lumpenproletarisch geprägten Quartiere von Gran Buenos Aires, dem 13 Millionen zählenden Moloch um die argentinische Hauptstadt.

Das Lanús des Sergio Olguín ist eines der mafiotischen Gewalt und Unmittelbarkeit. Ein Viertel, wo jeder jeden kennt und vieles wie die Zugehörigkeit zum Fußballverein qua Geburt festgelegt ist. Außerhalb des angestammten Territoriums ist der Mensch aus Lanús entsprechend klein.

„Zurück nach Lanús“ ist eine packend erzählte argentinische Mafia- und Sozialgeschichte, geprägt von Typen, die ihre lumpenproletarische Herkunft gern abschütteln würden, für sich aber eben keinen Zugang zu den irdischen Glücksversprechungen des argentinischen Kapitalismus finden.

Wenngleich Olguíns und Puenzos Perspektiven sehr unterschiedlich sind, vereint sie doch ihr Interesse für Außenseiterbiografien, Existenzialismen und den schnellen und szenischen Schreibstil. Der lässt keine Langeweile aufkommen. Die Mischung zwischen Lokalem und universell Gültigem stimmt bei beiden. Kein Wunder, dass auch Olguíns Roman verfilmt wird.

Fotohinweis:

Sergio Olguín: „Zurück nach Lanús“. Aus dem argentinischen Spanisch von Matthias Strobel. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 284 Seiten, 10 Euro Lucía Puenzo: „Das Fischkind“. Aus Ľdem argentinischen Spanisch von ĽRike Bolte. Verlag Klaus Wagenbach, ĽBerlin 2009, 157 Seiten, 16,90 Euro