Hör die Straße, Marianne!

Als 2005 die französischen Vorstädte brannten, war es ein Leichtes, die Jugendlichen zu kriminalisieren. Robert Castel hingegen zeigt: Die Banlieue-Jugendlichen sind Bürger zweiter Klasse und von Prekarität und Ausgliederung bedroht

VON TANIA MARTINI

Verzweifelte taugen nicht als Helden, und Aufstände der Verzweiflung schreiben keine Geschichte. Aufständen haftet etwas Konfuses und Gewalttätiges an. Der Zorn, die Ängste, die an die Oberfläche gelangen, sind unberechenbar, die Wut der Akteure unkanalisiert. Die Wut hat kein politisches Programm, hat keine Führungsfiguren. Aufstände erinnern an vorindustrielle Formen der Auseinandersetzung. Sie gebären keine Helden.

Aufstände werden auf den Moment ihres Ausbruchs reduziert, was die Nichtbeteiligten von der Verantwortlichkeit entlastet. Diese Figur des Aufständischen riefen auch Politik, Medien und Polizei auf, um die Unruhen in den französischen Banlieues im Jahre 2005 zu charakterisieren. Man hat noch die Worte des damaligen Innenministers und heutigen Präsidenten Frankreichs im Ohr, der die Jugendlichen als asoziale, verlorene Geschöpfe charakterisierte.

Die Unruhen in den französischen Vorstädten in ihren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, ist das Bestreben einer kleinen, analytisch genauen Schrift des französischen Soziologen Robert Castel, die nun in der Hamburger Edition vorliegt. „Negative Diskriminierung – Jugendrevolten in den Pariser Banlieues“ heißt sie und ist 2007 im Original erschienen.

Castels Absicht, und das scheint plausibel, besteht zunächst darin, den Diskurs um die Banlieues aus seinem aufgeheizten Modus zu befreien. Das zielt auf das rassistisch geprägte Panikregime der politischen Rechten, aber auch auf die verbalen Zuspitzungen, die in Teilen der Linken kursieren. Beide Seiten bedienten sich des Ghetto-Vergleichs. Ihn entlarvt Castel als Polizeiversion einerseits, die als Rechtfertigung für eine quasimilitärische Rückeroberungsstrategie diene. Andererseits, und das ist seine zentrale These, verdecke ein stereotypisiertes Bild der Banlieue den konkreten historischen Kontext, denn: „Was als Vorstadtproblem herausgestellt […] wird, ist nur ein […] Teil der Probleme, die in Frankreich […] durch die Zunahme von sozialer Unsicherheit und Prekarität und die Entwicklung von neuen Formen der Armut aufgeworfen werden.“

Castel behandelt die Banlieue, die nicht immer als Ort des sozialen Abstiegs galt, als Teil der neuen sozialen Frage. Das klingt zunächst nach einer simplen Ableitung. Castel, der in Deutschland mit seinen Arbeiten über Prekarität und die Krise des Sozialstaats bekannt geworden ist, zeigt jedoch das Verwobensein von sozialer Frage und rassistischer Diskriminierung, die er als Teil des postkolonialen Erbes Frankreichs analysiert.

Die Banlieue zeigt sich als eine Art Verdichtung von rassistischer und klassengeprägter negativer Diskriminierung. Eine komplexe Dynamik: Die zunehmende Deindustrialisierung drängt diejenigen mit der schlechtesten Ausbildung an den Rand, weil sich der Anteil so genannter unqualifizierter Beschäftigung aufgrund der Veränderungen des Arbeitsmarkts verringert hat. Die Ausbildungschancen jedoch sind nicht gleich verteilt. Vor allem die Jugendlichen maghrebinischer oder subsaharischer Herkunft sind benachteiligt. Selbst dann noch, so Castel, wenn sie bereits in dritter Generation in Frankreich leben, französische Staatsbürger sind, keinerlei Verbindung zum Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern haben und zudem, was das religiöse Stigma betrifft, zu 68 Prozent Laizisten sind, wie eine Umfrage zeigte.

Castel ruft hier zur Erklärung eine marxistische Kategorie auf, die wegen des ansonsten auffällig positiven Bezugs auf das republikanische Erbe beinahe überrascht: die gefährliche Klasse und ihr Nutzen für die Herrschaft. Was die Landstreicher für die vorindustrielle und das Proletariat für die industrielle Gesellschaft gewesen, seien die Banlieue-Bewohner für die postindustrielle Gesellschaft: Projektionsfläche und Verkörperung einer neuen Unsicherheit, derjenige Ort, an den der innergesellschaftliche Konflikt verschoben wird. Die gefährlichen Klassen sind diejenigen, in denen man „den Kern eines Problems sieht, das weit über sie hinausreicht, und dessen Opfer sie eher sind, als dessen Verursacher. Aber genau das ist in der Ökonomie der sozialen Beziehungen auch ihre Funktion.“

Den Vorstadtjugendlichen nun, an den Rändern der sozialen Welt existierend, werde eine überzogene Verantwortlichkeit in Bezug auf eine Sicherheitsobsession aufgeladen, die die französische Gesellschaft aufgrund von zunehmender Massenarbeitslosigkeit und des Abbaus von festen Beschäftigungsverhältnissen durchdringe.

Castels vorläufiger Vorschlag besteht in Bildungsförderungsgesetzen und einer Stadtteilpolitik, die den dort lebenden Migranten, aber nicht nur ihnen, zugute kämen. Seine Vision ist die Herstellung einer vollwertigen politischen und sozialen Staatsbürgerschaft für alle, eine Staatsbürgerschaft, die nicht über Ausschluss funktioniert, sondern Ausdruck einer wirklich pluriethnischen und plurikulturellen Republik ist.

Die Banlieue, so sein Fazit, ist kein Ghetto, sondern eine Baustelle. Oder wie es in einem französischen Rap-Song heißt: „Die Straße spricht, kein Grund zur Panik!“

Fotohinweis:Robert Castel: „Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues“. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg 2009, 122 Seiten, 15 Euro