Plötzlich ist etwas da, wo vorher nichts gewesen ist

Ein kleines Buch über die ganz großen Fragen: Was ist das Leben? Was bedeutet es, in einer Abfolge von Generationen zu stehen? Und was hatten die eigenen Eltern miteinander zu tun? David Wagner schreibt literarische Miniaturen über Erfahrungen von und mit Kindern: „Spricht das Kind“

Eine alte, klassische Frage. Womit fängt das Schreiben an? Vielleicht ja mit einer Einsicht wie dieser: „Das Kind ist da, wo vorher nichts gewesen ist. Ich höre nicht auf, mich darüber zu wundern.“ Schlichter kann man Sätze kaum formulieren. Und doch enthalten diese beiden geradezu ein tiefes, metaphysisches Staunen. Dass sich daraus ein Schreibimpuls ergibt, glaubt man auf der Stelle (überhaupt sind Kinder ja häufig Anlass zumindest für alltagskünstlerische Betätigungen, wenn sie sich auch oft auf das Erstellen von Fotoalben oder Videofilmen beschränken). Aber es ist für einen Schriftsteller nicht ohne Risiko, solche kleinen großen Sätze auch tatsächlich hinzuschreiben. Denn sie wollen beglaubigt sein. Nichts öder, als wenn sie Behauptung bleiben und man das Sichwundern sonst gar nicht in dem Buch wiederfinden kann.

Die beiden Sätze stehen zum Ende hin in dem kleinen großen Buch „Spricht das Kind“ des 1971 geborenen Schriftstellers (und Vaters einer Tochter) David Wagner. Sie haben an dieser Stelle gar nichts Programmatisches. Vielmehr sind sie eingebunden in eine kurze Szene, die der Erzähler schildert: „Kinder sind Menschen, die sonst nicht da waren, höre ich eine alte Frau sagen. Ich höre das nur im Vorübergehen.“ Hinzu kommt etwas, was er das Kind hat sagen hören: „Ich bin da, sagt das Kind am frühen Morgen. Staunt, freut sich, als hätte es sich an sein Hier- und Dasein noch gar nicht gewöhnt.“

Aus so einer Gemengelage aus im Vorübergehen Gehörtem, Beobachtetem, Reflexionen und Erinnerungen baut David Wagner eine Miniatur, die – so nebenbei sie zunächst daherkommt – Widerhaken hat. Nichts ist alltäglicher als ein Kind am frühen Morgen. Aber David Wagner hat die Fähigkeit, so eine alltägliche Situation wie zum ersten Mal gesehen zu beschreiben. Und eine unangestrengte Art, daraus etwas aufscheinen zu lassen – bis man als Leser in zwei Sätzen ganze Poetiken mitschwingen sieht.

So ist das oft mit diesem Buch. David Wagner schreibt über so Basales wie das Einschlafen oder das Sprechenlernen, über böse Tiere wie Krokodile und Kinderspiele, über das Anziehen von Schlafanzügen (schwer bei schlaftrunkenen Kindern!) und über Bauchschmerzen. Aus gut 100 solcher Miniaturen ist das Buch konstruiert. Man kann es ruhig einem Bekannten schenken, der ein Kind bekommen hat; er wird vieles, was er von seinem Kind her kennt, wiederfinden (die Entwicklungspsychologie hat einen ja längst aufgeklärt, dass das, was man an seinem Kind als so zauberhaft und besonders empfindet, oft Teil des normalen Individuationsprozesses ist) – und sein Pathos und seine Verwirrung, die beide mit dem Elternwerden einhergehen, in vielen Abschnitten gleich mit.

Es wäre aber falsch, dies nur als Buch übers Kinderhaben zu begreifen (weshalb man es auch Nichteltern unbedingt ans Herz legen möchte). Vielmehr berührt David Wagner die ganz großen Fragen. Was heißt es, auf der Welt zu sein? Was ist das Leben? Was bedeuten Geburt, Sterben, Erwachsenwerden? Was folgt daraus, in einer Abfolge von Generationen zu stehen? David Wagner spielt in diesen Miniaturen ein unironisches, sehr ernsthaftes Schreiben über Gefühle und Fragen durch, die man aus vielen Kontexten nur als zu Tode verniedlicht behandelt kennt.

Auch Erinnerungen an die eigene Kindheit verarbeitet die Erzählerstimme. Eine Kindheit in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre wird dabei genauso sorgfältig abgetastet wie die Erlebnisse des namenlos bleibenden heutigen Kindes. „Was hatten meine Eltern miteinander zu tun?“ Noch so eine schlichte, aber nie auszulotende Frage. Mit ihr beginnt der Abschnitt „Verwandtschaft“, der nach nur zwei Seiten mit der Erde an den Grabsteinen endet, die der Großvater einst von einem Friedhof geborgen hat, auf den in den letzten Kriegswochen Bomben gefallen waren. „Jede Tante hatte ihre Torte, jede Tante hatte ihren Toten“, heißt es lapidar kurz darauf; dem jungen Erzähler waren Tortenstücke auf den Teller gelegt worden, die „Onkel Max“ oder „Onkel Rudi“ einst so gut geschmeckt hatten, bevor sie gefallen waren. Familienerzählungen, Kriegsgeschichten – und gute Beispiele dafür, dass dies Buch das Sichwundern unbedingt beglaubigen kann. David Wagner nimmt die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die man mit einem Kind und als Kind haben kann, sehr ernst. Das Staunen kommt hier ganz von selbst.

Dass etwas da ist, wo vorher nichts gewesen ist – diesen Gedanken kann man auf die Literatur übertragen. Auch Bücher sind plötzlich da, wo vorher nichts gewesen ist. Manchmal hört man nicht auf, sich darüber zu wundern. So wie bei diesem.

DIRK KNIPPHALS

Fotohinweis:David Wagner: „Spricht das Kind“. Droschl, Wien, Graz 2009, 146 Seiten, 18 Euro