Kolumne Das Schlagloch: Revolutionen sind blutig

Erdbeben sind berechenbarer als Finanzkrisen. Vor zehn Jahren warnte Oskar Lafontaine.

Heute begehen wir den 11. März, den 10. Jahrestag des Rücktritts eines Finanzministers. Nicht jedes Rücktritts eines Ministers muss man gedenken. Der 11. März ist die Ausnahme.

Denn das Gedenken beginnt immer vom anderen Ufer aus, wenn nichts mehr in einen alten Zustand zurückführt. Schauen wir also zurück. Zuerst in die letzte Woche, dann zwanzig Jahre zurück, dann zweihundertzwanzig Jahre, dann zehn Jahre. Fast jedes Mal trat ein Finanzminister zurück.

Wenn der Boden unter den Füßen zu wanken beginnt, handelt es sich entweder um eine Revolution, um eine Finanzkrise oder um ein Erdbeben. Die amerikanische Versicherung AIG hat in der letzten Woche weitere 30 Milliarden Dollar vom Staat bekommen, um dem drohenden Zusammenbruch zu entgehen. Dabei sind Versicherungen als letztes Mittel gegen Zusammenbrüche erfunden worden. Trotz der 30 Milliarden stürzten die Versicherungstitel reihenweise ab. Skeptiker flüstern, nun gerate die Finanzkrise außer Kontrolle. Aber ist eine Krise, die kontrollierbar ist, überhaupt eine Krise?

Der große Versicherer selbst sagt, ein Erdbeben sei wesentlich berechenbarer als eine Finanzkrise. Das klingt nicht gut, es sei denn, AIG hat an das Beben von Andernach gedacht. Beim letzten großen Erdbeben in Deutschland wankten am 3. August 2007 morgens um 5 Uhr mehrere Sekunden lang die Schrankwände.

Wir leben im 20. Jahr der "friedlichen Revolution" von 1989, und dieses seltsam irreale Gefühl, dass der Boden unter den Füßen wankt, hat unser emotionales Gedächtnis fest gespeichert. Dabei hatten wir 1989 auf nichts so wenig Lust wie auf eine Revolution, auch weil wir schon das ganze Jahr Revolutionsgeschichte getrieben hatten und wussten, wie so etwas ausgeht. Am 14. Juli 1989 wurde die Französische Revolution zweihundert Jahre alt. Und da die DDR die französische Revolution für die Mutter oder die Großmutter der proletarischen Revolution hielt, wurde sie gefeiert wie eine eigene. Es ge- hört eine unglaubliche Naivität dazu, Revolutionen zu feiern, diese größten Blutfeste der Geschichte.

Natürlich wussten wir, dass 1989 keine kommt. Denn die Geschichte reimt nicht. 1789? 1989? Undenkbar. Unmöglich. Wie die Geschichte zeigt, muss man in Jahren mit einer 9 hinten sehr aufpassen.

Die Französische Revolution fand nicht statt, weil der Geist des historischen Fortschritts der Meinung war, dass es Zeit sei, die Menschenrechte durchzusetzen. Nicht wegen der ganzen Freiheit! und Gleichheit! und Brüderlichkeit! Sie brach aus als Folge einer großen Finanzkrise.

Als im Mai 1781 der Generaldirektor der Finanzen Necker sein Amt niederlegte, war die Welt fast noch in Ordnung. Auch muss es eine sehr schöne Welt gewesen sein, denn das 18. Jahrhundert gilt als Zeit großen Wohlstands.

Aber 1789 beliefen sich die französischen Staatschulden bereits auf 5 Milliarden, während das in Umlauf befindliche Bargeld auf 2 Milliarden geschätzt wurde. Dabei war Ludwig XVI. eigentlich ein grundsolider, wohlmeinender König, nicht halb so verschwenderisch wie Ludwig XIV., der Sonnenkönig. Die Steuern zu erhöhen war unmöglich, da sie in den letzten Jahren schon ins Unermessliche gestiegen waren, übertroffen nur noch von den Preisen.

Neckers Nachfolger Calonne schlug vor, was noch nie jemand vorzuschlagen gewagt hatte: Könnten künftig nicht auch die Besserlebenden Steuern zahlen? Die Angesprochenen, Adel und Klerus, erzwangen die Entlassung Calonnes, dem nichts übrig geblieben war, als neue Kredite aufzunehmen.

Calonnes Nachfolger Brienne hatte zuletzt aus Verzweiflung selbst die Invalidenfonds und die Subskriptionen der Krankenhäuser angerührt, bevor er sein Amt niederlegte. Worauf wieder Necker Finanzminister wurde. Am 12. Juli 1789 setzte der König ihn ab. Am 14. stürmte das Pariser Volk die Bastille.

Am Beginn des Herbstes 1989 stand selbstredend auch eine große Finanzkrise. Die DDR war pleite, weigerte sich aber, in solchen Kategorien zu denken. Die Welt des Geldes galt es zurückzulassen. Um ihre Geringschätzung für dieses Relikt aus der kapitalistischen Vergangenheit auszudrücken, gab es im regierenden Politbüro erst gar keinen Finanzobmann. Nur einen für Wirtschaft, dessen Vormund Erich Honecker war. "Das Gesetz bin ich!" hatten die französischen Könige gesagt. "Das Gesetz und die Wirtschaft bin ich", sagte der Arbeitersonnenkönig Erich Honecker. Am 3. Oktober 1789 hatte Ludwig XVI. - bald darauf enthauptet von dem Instrument, dass er miterfunden hatte - sein Volk gebeten, es müsse dem Staat zu Hilfe kommen. Erich Honecker formulierte das am 7. Oktober nur etwas anders, um kurz darauf von den eigenen Genossen gestürzt zu werden. Auch als oberster Herr der Finanzen. Die Revolution begann.

War sie nicht eine Rolle rückwärts? Doch die DDR wie das Ancien Régime - zwei Feudalismen, ein Arbeiterkönigtum und ein echtes - gingen streng nach den Kriterien der Leninschen Revolutionstheorie unter: Es genügt nicht, dass ein Volk nicht mehr so weiterleben will wie bisher, die Regierenden müssen auch unfähig sein, so weiter zu regieren wie bisher. Der dritte Stand hätte es im 18. Jahrhundert nie geschafft ohne das kämpfende Volk. Es half, die Voraussetzungen der nächsten Revolution zu schaffen, der industriellen Revolution, um dann in dieser verheizt zu werden.

Das hat den aufmerksamen Beobachter Karl Marx beschäftigt. Sollte es nicht mal eine Revolution geben, von der auch das Volk etwas hat? So eine richtige 89er-Revolution mit "Wir-sind-das-Volk"-Rufen? Wahrscheinlich hätte Marx die Sache wie Heiner Müller gesehen. Als die Leipziger Rufe von "Wir sind das Volk" in "Wir sind ein Volk" wechselten, hat Müller gesagt: "Wir sind ein blödes Volk!" Das sich selbst enteignende Volk, das sich bedingungslos der D-Mark ausliefernde Volk.

Was Marx am Kapitalismus störte, ist seine Unfähigkeit, der jeweils nächsten Krise aus dem Weg zu gehen. Das hat Oskar Lafontaine vor zehn Jahren versucht, als er vielbelächelt die Kontrolle der internationalen Finanzmärkte forderte. Vielleicht ist Lafontaine auch eher ein Finanzphilosoph als ein Finanzpolitiker; Philosophen an der Macht sind immer gefährlich.

Heute vor zehn Jahren ist Oskar Lafontaine als Finanzminister zurückgetreten. Wie ist er dafür geschmäht worden. Ich habe das nie verstanden. Denn nicht Selbstverrat zu begehen, keine bloß molluskenhafte Funktion der Macht zu sein - Macht macht molluskenförmig -, das hatte doch Größe.

Und nun schon wieder Finanzkrise plus Revolution? Aber die Zukunft liegt bereits hinter uns. Es gibt keine sozialistische Ökonomie, wer sie erlebt hat, weiß das. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Revolution ausbricht, ist gegen Ende eines Jahrzehnts um 99 Prozent höher als zu Anfang eines Jahrzehnts. Es gibt kein Revolutionsjahr mit 0 oder 1 oder 2 hinten. Nicht mal eines mit 6. Revolutionen fangen bei der Endzahl 7 an - siehe Oktoberrevolution. Wir leben in gefährlichen Zeiten.

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