Kolumne Das Schlagloch: Endlose Selbstbetäubung

Nahezu alle wollten fest daran glauben, dass die Börse Wunder vollbringt.

Erinnert sich noch jemand an Pixelpark? Ein Internet-Start-up aus Berlin, dessen Aktien nach dem Börsengang Ende der Neunzigerjahre binnen kurzem um knapp 1.000 Prozent nach oben schossen. Fragen nach Umsatz und Dividende, die im Grunde für jeden Käufer selbstverständlich sein sollten, schienen damals keine Rolle zu spielen, und das galt praktisch für alle Firmen des sogenannten Neuen Markts. Mit oft grotesken, jeder Vernunft spottenden Resultaten wie etwa dem, dass der Börsenwert einiger dieser Unternehmen mit einer Handvoll Angestellter und ein paar Computern höher war als der von Industriekonzernen.

Dass hier einmal Arbeitsplätze in erheblicher Zahl entstehen könnten, glaubte außer einem haltlos schwadronierenden sozialdemokratischen Kanzler gleichwohl niemand. Vielmehr ließ man sich bereitwillig auf ein Gewinnspiel ein, das so viel Realitätsgehalt besaß wie das Eheversprechen eines notorischen Heiratsschwindlers. Wer dabei nicht mitmachte, fand sich umgehend in der Rolle desjenigen wieder, der nicht nur Fortschritt und Wohlstand für alle hintertrieb, sondern ebenso dem nationalen Standort unwiderruflichen Schaden zufügte. Verschrien als eine Art von Partyschreck, der sich daher irgendwann jeden Kommentar zu den medialen Hirngespinsten verkniff, von denen weite Teile der Bevölkerung rauschhaft ergriffen worden waren: Pump dir Geld für ein paar Telekom-Aktien und du hast ausgesorgt.

Als die Blase dann platzte, blieb kaum Zeit für die in solchen Fällen angebrachte Schadenfreude, es ging gleich weiter. So besinnungslos wie zuvor, nur auf einem komplexeren Feld, dem der Zertifikate und Obligationen. Hatte man im Dotcom-Boom zumindest noch eine vage Vorstellung davon, wie Buchwert und reales Produkt verbunden sein könnten, verlor das, was man jetzt als Kapitalanlage handelte, vollends jede Beziehung zu den Gesetzen der ökonomischen Wirklichkeit. Deren erstes und seit der Steinzeit wichtigstes bedauerlicherweise nun mal lautet: Man muss Schulden, zum Beispiel Hypotheken, zurückzahlen; sie lassen sich nicht zum Verschwinden bringen, egal, welche Verpackung man für sie wählt und wohin man sie verschiebt. Oder andersherum: Angeschmiert ist der, der zum Schluss auf ihnen sitzenbleibt. So einfach ist das, was sich hinter Wortungetümen wie Asset Backed Securities, Collateralized Debt Obligations und Credit Default Swaps verbirgt. Der einmalige Wahnsinn, Millionen prekär Beschäftigter in den USA Haus- und Konsumentenkredite aufzuschwätzen, die sie nie würden begleichen können, führte aber dazu, eine Wirtschaft am Laufen zu halten, die unter normalen Bedingungen als Warenstaubsauger der Welt am Ende gewesen wäre; wovon nicht zuletzt die deutsche Exportindustrie profitiert hat und nicht davon, dass ihre Produkte konkurrenzlos sind.

Wäre das Wort nicht so essenziell Old School und würde es nicht diesen Beiklang von Überheblichkeit und Besserwisserei haben, fiele es mir leichter, den Begriff vom Verblendungszusammenhang zu verwenden, um Vorgänge zu erklären, die eigentlich jedem Erklärungsversuch hohnsprechen. Als befände man sich seit vielen Jahren in einem Zustand andauernder Betäubung, in dem man weder die Grundrechenarten mehr parat hat noch einen Gedanken daran verschwendet, dass die Basis keiner Gesellschaft, auch der avanciertesten kapitalistischen nicht, ein Wettbüro sein kann, das buchstäblich jede/n einlädt, auf eigene Kosten und angeblich ohne Risiko sein Glück zu machen.

Wie tief die Betäubung reicht, mag man vielleicht daran ermessen, dass noch niemand, dessen Geld bei Lehman Brothers (oder einer anderen Vermögensvernichtungsmaschine) geblieben ist, sein TV-Gerät aus dem Fenster geworfen hat, wenn ein Börsenreporter vor den Nachrichten wieder von der Erholung oder vom Taumeln der Märkte faselt, als würde er einen Boxkampf kommentieren. Und wie schamlos und ungebrochen man zugleich fortfährt, an diesem Ding namens Verblendung zu arbeiten, dokumentiert wohl kaum etwas besser als die Tatsache, dass dieselben diplomierten Experten, die bis vor einem halben Jahr der Deregulierung des Arbeitsmarkts und der Lockerung jeder Finanzaufsicht das Wort geredet haben, in denselben Talksendungen inzwischen das Gegenteil verkünden dürfen; in ihrer Ungeniertheit nur noch übertroffen von Moderatoren, deren Selbstentmündigung und Unterwürfigkeit intensiver therapeutischer Maßnahmen bedürfte.

Die Frage, was passiert, wenn die Krise im Sommer oder im Herbst mit aller Gewalt zuschlagen wird, stellt man sich lieber nicht, so willfährig die Mehrheitsgesellschaft nach wie vor in den Fantasmen der neoliberalen Ideologie befangen ist. Offenbar genügen zwei Börsencrashs - und der letzte mit nun desaströsen Folgen - innerhalb einer Dekade nicht, andere Reaktionen hervorzurufen als das, was politisch als Besonnenheit beschworen wird. Möglicherweise mit der Hoffnung verknüpft, es würde sich alles schon wieder einrenken, so hat die IG Metall gerade eine Kampagne plakatiert, die sich "Wie willst du leben?" nennt, als ginge es im Augenblick hauptsächlich um eine Art von Selbstfindungsprogramm für jüngere Arbeitnehmer. Wo es doch vorrangig notwendig wäre, sich nicht länger dumm machen zu lassen, nicht mehr zu glauben, sich mit Pixelparks, exotischen Schuldverschreibungen und absurden Abwrackprämien individuell sanieren zu können. Oder mit traditioneller Lohnarbeit in Zukunft jemals noch auf einen grünen Zweig zu kommen.

Wenn Ideologie, also Verblendung, bedeutet, den Irrsinn für vernünftig zu halten und das Vernünftige für extravagant, ist es höchste Zeit, sich mit ausschweifender Nüchternheit jede nur denkbare Extravaganz zu gestatten. Um soziale Fronten und ihre Fluchtlinien aufs Neue sichtbar werden zu lassen und Handlungsoptionen zu erkennen. Denn dass im Prinzip alle immer gleich viel zu verlieren hätten, ist eine dieser seltsamen Ideen, die mit dem Begriff vom falschen Bewusstsein nur unzureichend beschrieben wird.

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