Missbrauch - Agiert der Staat zu lasch?
Ja

RECHTSSTAAT Erst das Canisius-Kolleg, dann die Odenwaldschule. Immer mehr sexuelle Übergriffe kommen ans Licht. Nun wird gestritten, ob der Staat entschlossen genug handelt und ob Missbrauch zu schnell verjährt

Michael Grosse-Brömer, 49, Rechtsexperte der Unions-Bundestagsfraktion

Die erschreckenden Fälle von Kindesmissbrauch haben Mängel des geltenden Rechts offenbart. Weiter nur zusehen und bedauern reicht nicht mehr. Wir brauchen Regelungen, die es Tätern künftig schwerer machen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Hierzu muss Kindesmissbrauch endlich als Verbrechen eingestuft werden. Der Strafrahmen muss so weit erhöht werden, dass Verjährungsfristen – die erst mit Beginn der Volljährigkeit des Opfers zu laufen beginnen – von derzeit zehn auf zwanzig Jahre verlängert werden. Das wird den Missbrauchsopfern gerecht, die länger mit den traumatischen Erfahrungen zu kämpfen haben.

Ernst Wolfgang Kneese, 65, ist Vorsitzender des Vereins „Flügelschlag“ gegen Kindesmissbrauch

Da missbrauchen selbsternannte Vertreter Gottes ihr Amt und ihnen anvertraute Kinder. Ich verachte Menschen, die Macht haben, aber keine über sich selbst. Die religiöse Macht existiert seit über 2.000 Jahren. Und unsere Regierung soll diesem Giganten die Leviten lesen? Der deutsche Staat konnte einen einzigen Päderasten, den Chef der Colonia Dignidad in Chile, 50 Jahre nicht kontrollieren: Paul Schäfer, 89, vergewaltigte in seinem Leben ungehindert tausende Kinder. 2005 wurde er in Argentinien von Interpol verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Danach schickte der hilfreiche deutsche Staat Psychotherapeuten in die faschistische Mafia-Organisation. Die Gesetze, die die Kirche das Fürchten lehren, müssen noch erfunden werden. Im aktuellen deutschen Skandal müssen alle Experten zur Unterstützung der Regierung zusammengerufen werden. Null Toleranz bei Kindesmissbrauch, keine Verjährungsfristen. Am besten auf europäischer Ebene.

Iris Hölling, 42, Geschäftsführerin des Vereins „Wildwasser“ gegen sexuelle Gewalt

Der Staat muss mehr für eine Ächtung sexueller Gewalt tun. Solange wir sexuelle Gewalt nicht verhindern können, brauchen die Betroffenen die bestmögliche Unterstützung durch Beratung, Selbsthilfe oder Therapie. Der Staat muss die Unterstützungseinrichtungen bedarfsgerecht ausstatten, finanziell absichern und eine kontinuierliche Sensibilisierung zum Thema sexueller Missbrauch ermöglichen. Rechtliche Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft. Die Glaubhaftigkeit der Täter sollte stärker geprüft, die Verjährungsfrist verlängert werden.

Bernd Hans Göhrig, 43, Geschäftsführer der Initiative „Kirche von unten“ in Frankfurt

Sexuelle Gewaltverbrechen fallen nicht vom Himmel – es gibt Verantwortliche, die genau hinsehen: Generalvikare und Bischöfe, die einen Täter jahrelang versetzen. Die Verjährungspraxis begünstigt die „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche. Inzwischen haben diese Bischöfe gelernt, die eigenen Netzwerke zu aktivieren – die Ministerinnen Schavan und Schröder gehören dazu, der Grüne Josef Winkler (Mitglied im ZdK), die Katholikin Andrea Nahles. Ergebnis: ein runder Tisch mit dem Ziel, die katholische Kirche vom „Pranger“ (Schröder) zu nehmen – Bischofsschutz statt Opferschutz.

NEIN

Jerzy Montag, 63, rechtspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion

Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird, je nach Schwere des Delikts, mit einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren bestraft. Die Taten verjähren ab dem 18. Lebensjahr der Opfer in zehn bis zwanzig Jahren, nach Aufnahme der Verfolgung in bis zu 40 Jahren. Die zivilrechtliche Verjährung ist kürzer, beginnt aber auch erst nach dem 21. Lebensjahr der Opfer. Viel mehr kann der Staat nicht tun. Sexueller Missbrauch ist Unrecht und wird in aller Regel konsequent verfolgt und hart bestraft. Wer jetzt nach höheren Strafen und längeren Verjährungsfristen ruft, handelt unsachlich, polemisch und lenkt von realen Mängeln ab. Wer eine verlogene Sexualmoral predigt, eine Moral des „alles ist verboten“ und „alles ist erlaubt“, ist mitschuldig daran, dass hunderte, vielleicht tausende von Kindern und Jugendlichen in Schulen, Internaten und Heimen über viele Jahre sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Und alle Beteiligten übten sich in Schweigen. Dass das Internat Kloster Ettal, die Regensburger Domspatzen und die Odenwaldschule sich als Orte andauernden sexuellen Missbrauchs entpuppen, ist nicht so sehr Schuld eines laschen Staates als vielmehr einer kinderfeindlichen, verklemmten Gesellschaft. Der Staat kann und muss dabei helfen, dieses Kartell des Schweigens, Wegsehens und Bagatellisierens aufzubrechen.

Hans-Ludwig Kröber, 59, Professor der Charité, befasst sich mit Psychiatrie und Recht

Die Strafen für sexuellen Missbrauch sind nach Schuldschwere gestaffelt und hart genug. Es gibt große Unterschiede zwischen den Taten, es gibt solche ohne Berührung des Kindes (z. B. Exhibitionismus), Anfassen auf der Kleidung, Anfassen am Körper, Eindringen in den Körper, Gewaltanwendung, Waffengebrauch. Das Problem ist nicht die Strafhöhe, sondern die Ermittlung und Überführung der Täter. Deshalb ist es gut, die Anzeigebereitschaft zu ermutigen – sofort anzeigen statt in 30 Jahren. Wer gleich anzeigt, schützt sich und andere Opfer – und ermöglicht eine Wahrheitsfindung, die nach Jahrzehnten oft unmöglich ist. Es ist eine eigenartige Kriminalpolitik, die Missbrauchsdelikte vor 30 Jahren in den Fokus zu rücken. Hat die Achtundsechziger-Bewegung doch wesentlich dazu beigetragen, körperliche Gewaltanwendung und sexuelle Übergriffe in den Schulen zu mindern. Es bleiben aber auch heute 15.000 Tatverdächtige pro Jahr. Mehr als die Hälfte aller sexuellen Gewaltdelikte gegen Kinder werden in der Familie verübt.

Manfred Schweitzer, 58, Oberstaatsanwalt und Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft Berlin

Die Strafverfolgungsbehörden agieren angemessen. Die aktuell diskutierte Frage, ob die Verjährungsfrist verlängert werden soll, könnte potenzielle Täter zwar abschrecken. Vor übertriebenen Hoffnungen sei allerdings gewarnt. Denn anders, als es die gegenwärtige Situation zeigt, werden sich die Täter wohl kaum zu ihren Taten bekennen, wenn sie noch eine strafrechtliche Verfolgung befürchten müssen. Es müsste dann auf andere Beweismittel zurückgegriffen werden, etwa auf Aussagen der Opfer oder Zeugen. Deren Erinnerungsvermögen könnte nach 30 oder 40 Jahren jedoch ziemlich getrübt sein. Ob sie die Tatumstände (Tatzeit, Tatort, Tatablauf) dann noch konkret benennen können, ist natürlich fraglich. Und lässt die Verurteilung eines Täters eher zweifelhaft erscheinen. Damit wäre niemandem geholfen.