Debatte Finanzkrise: Sehnsucht nach Führung

Der Sturzflug des Euros nährt die Demokratieskepsis. Der Schriftsteller Robert Menasse redet ihr in einem Pamphlet das Wort.

Schleichend und fast unbemerkt kristallisiert sich ein neuer politischer Buhmann heraus: die Demokratie. Sie glauben das nicht? Sie meinen, wenn etwas außer Frage stehe, dann sei es die unabdingbare Notwendigkeit demokratischer Verhältnisse? Niemand, außer ein paar Spinnern, würde das heute in Zweifel ziehen? Nun, das stimmt nicht. Getragen vom Gestus des Tabubruchs, macht sich Demokratieskepsis breit.

Mehr noch: Die Demokratie wird sogar von zwei Seiten angegriffen. Da sind zum einen jene, die die Vorzüge einer "autoritären Modernisierung" à la China preisen. Diese sei nicht nur unserem krisengeschüttelten System überlegen, sondern auch viel fähiger etwa im Bereich Umweltschutz. Statt mühsam Mentalitäten zu ändern, könne sie eben autoritativ neue Standards durchsetzen. Und nun, wo die Finanzkrise hier angekommen ist, wo sie ganz Europa erschüttert und infrage stellt, erheben sich von ganz anderer Seite Stimmen, die am "letzten großen Tabu", der Demokratie, kratzen. Etwa Robert Menasse, der in der letzten Zeit (vom 20. 5. 2010) ein antidemokratisches Pamphlet veröffentlicht hat.

lehrt an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien und ist freie Publizistin. Im Feuilleton der taz schreibt sie die regelmäßige Kolumne "Knapp überm Boulevard".

Eines hat Menasse mit den Fürsprechern einer "autoritären Modernisierung" gemeinsam. Sein Vorwurf an die Demokratie lautet: Ineffizienz. Demokratie, wie wir sie kennen, sei den Herausforderungen und Problemen nicht mehr gewachsen. Nun gelte es, andere Lösungen zu suchen, die vor allem eines sein sollen: effizient.

Da ist natürlich etwas dran. Niemand kann leugnen, dass die Performance der europäischen Politiker, allen voran jene Angela Merkels, in der aktuellen europäischen Griechenlandkrise suboptimal war. Was aber schlägt Menasse als Gegenmodell vor?

Die Finanzprobleme Griechenlands seien, schreibt er, ein objektiver Sachverhalt. Dagegen helfe nur ein rationales Vorgehen. Die demokratischen Nationalstaaten hätten dabei versagt. Sie hätten nur antigriechische Ressentiments und Lobbyismus für die eigenen nationalen Wirtschaftsinteressen zu bieten. Die wirklich rationale Perspektive, die damit die eigentlich europäische ist, habe nur Brüssel: Der Brüsseler Beamtenapparat als das neue, wahre Subjekt der politischen Vernunft. Hier seien Kompetenz und Wissen gebündelt.

Es ist ein durchaus origineller Schwenk, dass der viel geschmähte Brüsseler Beamte zum neuen politischen Role Model werden soll. Menasse liefert eine ausführliche Eloge seiner Vorzüge: bestens qualifizierte Menschen, aufgeklärt, ohne Ressentiments, die höchst effizient eine "Maschinerie zur Produktion von Rationalität bedienen". Ebenso wichtig wie die persönliche Qualifizierung ist aber, dass sie unabhängig von Meinungen, Stimmungen und nationalen Medien agieren können. Nur solchermaßen ungehindert können die Beamten das sachlich Richtige tun. Das demokratische Defizit eines nominierten Beamtenapparats verkehrt sich zum Vorteil.

Allerdings nur dann, wenn Demokratie als ressentimentgetriebenes Hindernis jedes rationalen Vorgehens verstanden wird. Selbst wenn man die genrespezifischen Überspitzungen eines Pamphlets abzieht, bleibt doch die falsche Voraussetzung bestehen: Demokratie setze den "gebildeten Citoyen" voraus. Dieser sei heute aber im Brüsseler Beamtenapparat zu finden, während die nationalen Demokratien nur mehr Schauplatz für rassistische Massen und deren Medien sowie für Wirtschaftslobbyisten seien.

Nun ist aber die Demokratie eine politische Ordnung, die nicht von der Tugend des Einzelnen getragen werden muss. Sie sollte nicht nur für gebildete Citoyens funktionieren, sondern - mit Kant gesprochen - selbst für "ein Volk von Teufeln". Denn ihre Rationalität liegt in ihren Institutionen und ihren Verfahren und nicht in der Tugend und im Bildungsgrad des Einzelnen. Genau darum ging es ja beim sogenannten Eintritt der Massen in die Geschichte: Wie integriert man die Massen in ein gesellschaftliches System? Und da ist Demokratie immer noch die beste Antwort.

Zugleich ist die Demokratie aber auch paradox: Sie hat nicht nur eine delegierte Rationalität, sie berührt auch das zutiefst Irrationale: Ressentiments, Emotionen. Demokratie ist - ganz klar - keine rein rationale Veranstaltung. Das ist das Problem jeder Expertenregierung: Die sachliche Rationalität reicht nicht aus fürs Politische. Politik ist eben doch Regierung über Personen und nicht Verwaltung von Sachen, wie Engels fälschlich meinte.

Mögen die Brüsseler Beamten die vernünftigsten Vorschläge machen - irrationale Blockaden und Ressentiments verschwinden deshalb nicht. Wie schließt sich denn die Kluft zwischen Menasses "Glücksfall einer Elitenbildung" und den Menschen in den jeweiligen Ländern, mögen diese nun wirklich nur eine gefährliche Masse sein oder nicht? Man hat ja an den Reaktionen in Griechenland, an der griechischen Wut, gesehen, wie schwierig das ist. Wenn die Ausübung der Rationalität nicht autoritär werden soll, dann bedarf sie der Akzeptanz.

Nationale Rückzugsgefechte

Demokratie ist von ihrer Anlage her ein Modus des Umgangs mit irrationalen Momenten. Sie ist keine Maschine zur Produktion von Irrationalität, wie Menasse suggeriert, sondern vielmehr der Umgang damit. Ein Umgang, der so heikle Dinge wie Akzeptanz betrifft oder Partizipation. Nicht unbedingt als reale Teilhabe, sondern als das Gefühl, vorzukommen oder gemeint zu sein.

Demokratie bietet eine Bühne für die Repräsentation jener Vielfalt, die vielleicht nicht nur eine "gefährliche Masse" ist. Und genau das kann auch die rationalste Bürokratie nicht leisten. Experten für Sachfragen reichen da nicht aus: Dazu braucht es Politiker. Allerdings nicht solche "normativ abgerüsteten" wie die derzeitige Generation (Habermas), die kurzatmig nur Lösungen für den Tag sucht.

Darüber hinaus muss man sehen, dass nationalistische Ressentiments wie jene gegen Griechenland Rückzugsgefechte in einer Situation sind, in der wir uns unausweichlich einer postnationalen Konstellation annähern. Wir müssen beginnen, Demokratie entkoppelt von der Nation zu denken. Wir brauchen nicht weniger Demokratie, sondern mehr postnationale Demokratie.

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