Berührungen im Vorgestern

PROZESS Vor fünfzehn Jahren soll sich ein Mann an seiner Stieftochter vergangen haben. Doch vor dem Amtsgericht Hamburg-Bergedorf erinnert sie sich kaum an Einzelheiten

Es sei damals nichts vorgefallen, hat die Schwester gegenüber der Polizei ausgesagt

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Es ist ein Prozess, der einen ratlos hinterlässt – und einer, an dem nichts auszusetzen ist. Hier wurde Recht gesprochen. Aber was tatsächlich vor über 15 Jahren zwischen Stefanie E. und ihrem Stiefvater Thomas R. geschah, kann das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf nicht klären.

Auf dem Flur vor dem Gerichtssaal standen sie in zwei Gruppen: Der angeklagte R. in T-Shirt und Jeans mit seinem Anwalt auf der einen Seite, seine Ex-Frau und Stefanie E. auf der anderen. Beide sind Altenpflegerin, die Mutter füllig und in bunter Bluse, die Tochter schmal mit strengem Pferdeschwanz und Pullover. Als sie zwölf Jahre alt war, soll Thomas R. sich mit ihr und der ein Jahr älteren Schwester Ursula nackt unter die Dusche gestellt haben, so lautet die Anklage. „Er hat mich im Genitalbereich angefasst und sagte, er wolle mir zeigen, wie man sich richtig wäscht“, sagt Stefanie E. dem Richter. Daraufhin sei sie aus der Dusche gestiegen.

Aber an das genaue Jahr kann Stefanie R. sich nicht erinnern. Sie sagt, dass sie mit ihrer Schwester über den Vorfall gesprochen habe, doch die habe gesagt, sie solle sich nicht so anstellen. Stefanie E. bemüht sich, eine gute Zeugin zu sein, aber sie erinnert sich kaum. Schließlich liest der Richter das Protokoll des Telefonats vor, dass die Polizei mit der Schwester führte: Es sei damals nichts vorgefallen, hat diese ausgesagt. Als sie das hört, bricht Stefanie E. in Tränen aus.

Es ist einiges schwer zu verstehen in dieser Verhandlung: Immer wieder klingt an, dass die Schwester Ursula E. in weit stärkerem Maße von Thomas E. missbraucht worden sei. Doch als die Mutter, Ute E., deswegen zur Polizei ging, verweigerte die Tochter die Aussage. Das Verfahren, das nun wegen des möglichen Übergriffs auf Stefanie E. läuft, ist eigentlich ein Seitenpfad einer Auseinandersetzung zwischen Ute E. und der älteren Tochter: Ute E. ging zur Polizei, weil sie fürchtete, ihr Enkelkind werde durch den Lebensgefährten von Ursula E. missbraucht. Dabei kam auch der Duschvorfall zur Sprache. Davor oder danach, das bleibt unklar, schreibt Ursula E. in einem Chat, sie sei von Thomas E. missbraucht worden, während die Mutter tatenlos zugesehen habe.

Stefanie E. sagt, sie habe nach dem Vorfall unter der Dusche nicht mit ihrer Mutter gesprochen, weil sie sich geschämt habe. Erst Jahre später, als es um Ursula ging, habe sie sich dazu überwunden. Vor Gericht verlässt ihre Mutter den Saal, als Stefanie E. aussagt. Sie ist nicht dabei, als die Staatsanwältin sechs Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung für den Angeklagten fordert, als der Anwalt auf Freispruch plädiert. Thomas E. wird freigesprochen. Ein Anfassen im Intimbereich, so sagt der Richter, sei sexueller Missbrauch – aber dann müsse dieser Übergriff genau feststellbar sein. Einer, der Erfahrung mit solchen Prozessen hat, sagt hinterher, er sei überzeugt, dass da etwas war. Etwas, das sich heute der Justiz entzieht.