Abgehängt in die Community

„Underground Economy“: Wie funktioniert eine Gemeinschaft, in der staatliche Reglementierungen nicht mehr greifen? Sudhir Venkatesh über das Leben in einem US-Getto

Im Herbst 1989 kam Sudhir Venkatesh, aufgewachsen als Sohn indischer Immigranten in einer „blütenweißen Vorstadt“ in Kalifornien, an die University of Chicago. Er wurde gewarnt, in die nahen Wohnviertel unterprivilegierter Schwarzer zu gehen. Er ging trotzdem dorthin. Weil ihm in seinen Soziologie-Seminaren als „sonderbar“ auffiel, „dass die meisten Forscher offenbar keinerlei Interesse daran hatten, die Leute kennenzulernen, über die sie schrieben“, entschied er sich für die „direkte Beobachtung“ als Forschungsmethode. Venkatesh, inzwischen Professor für Soziologie an der Columbia University in New York, blieb der „Außenseiter, der versucht, das Leben im Getto von innen heraus zu ergründen“.

Den Untertitel „Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben“ hat sein in den USA Aufsehen erregendes Buch erst in der deutschen Übersetzung dazu bekommen. Er führt etwas in die Irre. Zwar schreibt Venkatesh seine Geschichte aus einer armen Chicagoer Hochhaussiedlung oft unter ökonomischen Gesichtspunkten und erkennt Parallelen zwischen der Struktur einer Straßengang und der „einer jeden x-beliebigen amerikanischen Firma“. Er vergleicht deren Geschäfte aber nicht miteinander. Insofern trifft der Titel der deutschen Ausgabe, „Underground Economy“, den Kern des Buchs besser als der reißerische Originaltitel „Gang Leader For A Day“.

Der Weg des Ethnografen führte direkt in heruntergekommene Wohnhochhäuser, in deren Treppenhäuser sich Gangmitglieder und höchstens noch Drogenkonsumenten herumtrieben. Venkatesh kam mit einem Fragebogen: „Was ist es für ein Gefühl, schwarz und arm zu sein? Sehr schlecht, eher schlecht, weder schlecht noch gut, eher gut, sehr gut?“ Als Antwort erhielt er Gelächter von den misstrauischen jungen Männern. Der Anführer der Gang, J. T., klärte ihn auf: „Ich bin kein Afroamerikaner. Ich bin ein Nigger. Wer hier wohnt, ist Nigger. Afroamerikaner wohnen in den Vorstädten und tragen Krawatten, wenn sie zur Arbeit gehen. Nigger finden keine Arbeit.“ Sie schafften sich indes genug Arbeit.

Venkatesh folgte dem Rat des Gangleaders, der glaubte, der andere wolle seine Biografie schreiben: Statt den Leuten Fragen zu stellen, solle er mit ihnen abhängen. Deshalb kann er in „Underground Economy“ Auskunft geben über die Tätigkeiten einer Drogendealergang in einem von der kommunalen Politik und der Polizei aufgegebenen Teil einer US-amerikanischen Großstadt in der ersten Hälfte der 90er-Jahre.

Die Black Kings, so nannte sich die Gang, verkauften nicht nur Drogen. Sie operierte im ganzen Staat Illinois, J. T. stand als lokaler Chef rund 250 Crackdealern in den Robert Taylor Homes in Chicagos South Side vor. 90 Prozent der Erwachsenen dort bezogen Sozialhilfe. Praktisch alle waren Schwarze.

Die Black Kings, so zitiert Venkatesh den Bandenchef nicht nur einmal, „sorgen hier für Ordnung. Wir kümmern uns um die Community.“ Sie fuhren Kranke und Verletzte ins Krankenhaus, weil die Ambulanz nie zu den Wohnblocks kam; sie hielten die jungen Gangmitglieder dazu an, die High School zu besuchen; sie warben unter den Bewohnern, zur Wahl zu gehen, und gaben konkrete Wahlempfehlungen; sie organisierten Basketballturniere. Die Gang war „in mancherlei Hinsicht eine Art De-facto-Verwaltung der Robert-Taylor-Gebäude“, notiert Venkatesh, der ebenso bemerkt, „dass die Gang hier nicht nur als eine zerstörerische Kraft betrachtet wurde“.

Je besser die Beziehungen zu den Bewohnern der Homes waren, desto ungestörter konnte die Gang ihre Geschäfte erledigen. Ab und zu verteilte J. T. Geld an bedürftige Familien. Mieter, die ihre Wohnung als Drogenbunker zur Verfügung stellten, erwarben sich Vorteile. Doch so wie sie gaben, nahmen die Black Kings auch: Steuern von den Bewohnern, die neben der Sozialhilfe Geld verdienten durch Prostitution, Autoreparaturen, Verkauf von Süßigkeiten, Haareschneiden.

Venkatesh verhehlt seine Bewunderung für den Gangleader J. T. nicht und beschreibt sein Dilemma einmal so: „Es fiel mir zunehmend schwerer, mir einzureden, dass ich nur ein soziologischer Beobachter war, unbeteiligt und objektiv. Sollte ich wirklich tatenlos zusehen, wenn jemand zusammengeschlagen wurde? Ich schämte mich für meinen Wunsch, so nahe heranzukommen: an eine Kultur der Gewalt, die, wie ich wusste, noch kein anderer Wissenschaftler aus der Nähe beobachtet hatte.“

Einmal wurde ihm seine Nähe zu J. T., der durch seine schützende Hand die Feldforschung erst ermöglichte, fast zum Verhängnis. Von Dutzenden Bewohnern trug er Daten zu deren Nebenverdiensten zusammen – und legte sie dann ausgerechnet J. T. vor, der entsprechend seine Steuersätze anglich. Nur langsam verziehen die Bewohner Venkatesh.

Sieben Jahre lang besuchte Venkatesh dieses Soziotop fast täglich. Er schildert es mit unverstellter Sympathie, weswegen man fast mit Bedauern liest, dass die Robert Taylor Homes Mitte der 90er-Jahre abgerissen wurden. Die Bewohner verloren ihre Community, die Gang-Landschaft fragmentierte sich, der Crackhandel ging zurück. J. T. eröffnete einen Friseurladen, ohne damit Erfolg zu haben.

STEPHAN LOICHINGER

Sudhir Venkatesh: „Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben“. Econ Verlag, Berlin 2008, 336 Seiten, 18 Euro