Devil’s Island Revisited

DREYFUS UND GUANTÁNAMO Louis Begley versucht sich im Auftrag der Yale University Press an einem Vergleich zwischen zwei Justizskandalen

Fatal ist, dass Begley dem Juristen in sich die Federführung überlässt. Der nämlich ist vor allem ein gewissenhafter Sammler von Fakten

VON KATHARINA GRANZIN

Die Putzfrau des deutschen Militärattachés in Paris, so ist es überliefert, pflegte sich etwas hinzuzuverdienen, indem sie dem französischen Geheimdienst regelmäßig den Inhalt des deutschen Papierkorbs ablieferte. So gelangten im Jahr 1894 Fetzen eines Schriftstücks in den Besitz der Franzosen, auf dem ein unbekannter Verfasser militärische Geheimdokumente aufgelistet hatte, die er dem Attaché zur Einsicht anbot. Zu manchen davon konnte nur Zugang haben, wer in Verbindung mit dem französischen Generalstab stand; daher fiel alsbald der Verdacht auf den Artillerieoffizier Alfred Dreyfus.

Zwar hätten viele jene Informationen beschaffen können, doch Dreyfus war als elsässischer Jude ein willkommener Verdächtiger. Dass Juden neuerdings bis in den Generalstab aufsteigen konnten, passte vielen Militärs ohnehin nicht. Der vermögende Industriellensohn Dreyfus hätte zwar keinerlei Motiv gehabt, seinen Sold mit einem Agentenbakschisch aufzubessern, und zudem stimmte seine Handschrift nicht mit der auf dem Schriftstück überein. Das aber erklärte man damit hinweg, dass der Verdächtige seine Schrift verstellt habe. Doch weil ein solch fragwürdiger Beweis kaum für eine Verurteilung ausgereicht hätte, ließ ein Kreis von Verschwörern aus Geheimdienst und Militär zusätzliche „Beweise“ produzieren. Aufgrund des gefälschten Materials wurde Dreyfus zu lebenslanger Verbannung und Haft auf der Teufelsinsel verurteilt.

Der Fall Dreyfus sollte in den Jahren darauf Frankreich spalten, wurde zum Gegenstand zahlreicher Romane, später auch Filme, und wird noch heute als warnendes Beispiel hochgehalten, wenn es gilt, Menschenrechte gegen Machtmissbrauch und Behördenwillkür zu verteidigen.

Als die Yale University Press an den Autor Louis Begley herantrat, um ihn für ein Buchprojekt mit dem Arbeitstitel „Why the Dreyfus Affair Matters“ zu gewinnen, ging es, wie der Titel nahelegt, wohl nicht darum, neue Erkenntnisse über den gut dokumentierten Fall Dreyfus zu gewinnen, sondern um das Herausarbeiten einer politischen Parallele. Überdeutlich hervorgehoben wird dies im sperrigen Untertitel der deutschen Ausgabe: „Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte“. Das englischsprachige Original erscheint übrigens erst im September. Ein literarisch versierter, ehemaliger Anwalt wie Begley, so mag man gedacht haben, würde einen ebenso juristisch fundierten wie literarisch packenden und womöglich polemischen Zugriff auf das Thema finden.

Begley, der vor Kurzem Europa besuchte und dabei auch Fragen zum Buch beantwortete, erzählte, er habe das Angebot zuerst ablehnen wollen, da er kein Historiker sei, es dann aber doch spannend gefunden. Doch wer gehofft hat, dass der direkte Vergleich der Dreyfus-Affäre mit den Guantánamo-Prozessen, so welche stattgefunden haben, politischen Erkenntnisgewinn bescheren könnte, muss nach Lektüre des Begley’schen Auftragswerks enttäuscht sein.

Knapp 18 der 213 Seiten befassen sich eher pflichtschuldig mit Guantánamo. Begley erwähnt den Prozess gegen Salim Ahmed Hamdan, den Fahrer von Ussama Bin Laden, der erst nach fünfeinhalb Jahren in Guantánamo verurteilt und ein halbes Jahr darauf freigelassen wurde, und geht eingehend auf Berichte über Folterungen ein, allerdings ohne die Gelegenheit wahrzunehmen, auch an dieser Stelle einen expliziten Vergleich anzustellen. Denn: Zwar hat man Dreyfus unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, im Verhör gefoltert aber wurde er nicht.

Von einem Nichthistoriker sollte man sicher nicht erwarten, sich aufs Glatteis vergleichender historischer Interpretationen zu wagen. Doch so korrekt Begleys Entscheidung, sich auf eine eingehende Schilderung der Dreyfus-Affäre zu konzentrieren, an sich sein mag, so fatal ist es, dass er dabei dem Juristen in sich die Federführung überlässt. Der nämlich ist vor allem ein gewissenhafter Sammler von Fakten, die er mit großer und insgesamt wenig inspirierter Detailgenauigkeit vor dem Leser ausbreitet. Dabei verhält er sich in etwa wie ein Wanderer, der sich auf unbekanntem Terrain an vorgefundenen Wegmarken entlanghangelt und nicht den Mut aufbringt, loszulassen und draufloszulaufen. So mangelt es diesem Buch nicht nur an einer ernsthaft verfolgten These, sondern auch an Schwung und Gestaltungswillen. Kurz: Man vermisst Begley, den Schriftsteller. Schmerzlich.

■ Louis Begley: „Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte“. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 250 Seiten, 19,80 €