Die Politik der Tabuzonen

CHINA Yang Xianhuis Interviews und Berichte beenden das Schweigen über das Todeslager von Jiabiangou

Um die strikte Zensur zu umgehen, gab Yang seine Interviews mit Überlebenden als Literatur aus

VON CHRISTIAN SEMLER

Die Anti-rechts-Kampagne der Jahre 1957/58 ist bis heute eine No-go-Area für Historiker und Publizisten in China. Damals hatte die Parteiführung, Mao folgend, zunächst dazu aufgefordert, freimütig Kritik zu üben. Die Linie „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ gewann indes bald ein Tempo und ein Ausmaß, das die Kommunistische Partei als gefährlich für ihr Machtmonopol ansah. Es wurde deshalb eine Kritikbewegung angefacht, die dafür zu sorgen hatte, das im ganzen Land „Rechte“ entlarvt werden.

Ein Plansoll von 10 Prozent der Intellektuellen, die es treffen sollte, wurde vorgegeben. 550.000 Intellektuelle wurden „zur Umerziehung“ in entlegene Gebiete verbannt, wo sie in Lagern Zwangsarbeit verrichten mussten. Viele starben, viele durften erst nach 1978 in ihre Heimatorte und zu ihren Berufen zurückkehren. Eine kollektive Rehabilitierung der Opfer unterblieb, denn es war Deng Xiaoping, der die Anti-rechts-Bewegung führend organisiert hatte.

Die große Vertuschung

An diesem Stand der Dinge änderte sich auch zum 50. Jahrestag der Kampagne nichts – im Gegenteil. Im Januar 2007 verfügte die Propagandaabteilung des Zentralkomitees, dass die Anti-rechts-Kampagne in den Medien nicht erwähnt werden dürfe.

Dies, obwohl eine Reihe prominenter Intellektueller in einem offenen Brief erklärte, das Verbot sei nichts „als eine lächerliche Selbsttäuschung“ und die Rehabilitierung, und Entschädigung der Opfer forderte. Auch bei den Feiern zum 60. Jahrestag der VR China setzt die KP in ihrer Geschichtspropaganda die Politik der Tabuzonen fort. Die Anti-rechts-Kampagne bleibt ein „weißer Fleck“.

Yang Xianhui, ehemals glühender Rotgardist, begann sich schon früh für das Schicksal der „Rechten“ zu interessieren. Er arbeitete während der Kulturrevolution in einem Wüstengebiet der entlegenen Provinz Gansu und erfuhr von der Existenz des „Umerziehungslagers“ Jiabiangou, wohin 3.000 Intellektuelle verbracht worden waren. Das Schweigen über dieses Lager, in dem nur 500 Insassen überlebten, ließ ihm keine Ruhe. Das Lager war 1961 nach einer Intervention der Pekinger Zentrale aufgelöst worden, und die regionalen Parteiinstanzen unternahmen eine groß angelegte Vertuschungsaktion. Totenscheine wurden gefälscht, Überlebende wie Zeugen durch Drohungen zum Schweigen gebracht. Viele Jahre später, in den frühen 90ern, reiste Yang Xianhui mehrere Male nach Gansu. Es gelang ihm, insgesamt 100 Überlebende aufzuspüren und ihr Vertrauen zu gewinnen.

Um die Sammlung der Interviews zu publizieren, umging er die strikte Zensur mit einem Kunstgriff. Er bediente sich des Mittels der fiktionalen Dokumentation, gab also seine Interviews als Literatur aus. Sein Werk wurde zu einem großen Publikumserfolg, preisgekrönt und erlebte mehrere Auflagen. 2003 wurden schließlich 19 dieser „Kurzgeschichten“ unter dem Namen „Abschied von Jiabiangou“ veröffentlicht. Die jetzige deutsche Ausgabe versammelt sieben dieser Geschichten.

Der langsame Hungertod

Es handelt sich um eine ebenso eindrucksvolle wie bedrückende Dokumentation. Im Zentrum steht der allgegenwärtige, alles bestimmende, alle menschlichen Beziehungen angreifende permanente Hunger der Lagerinsassen. 500 Gramm Getreide am Tag verurteilten die Gefangenen bei schwerer körperlicher Arbeit zum langsamen Tod. In einem der Interviews lehnt ein regionaler Parteisekretär es ab, angesichts der Todesrate im Lager die Getreidezuteilung zu erhöhen. „Was machst du dir Sorgen, wenn ein paar Verbrecher sterben“, bescheidet er den besorgten lokalen Sekretär, „auf dem Weg zum Sozialismus bleiben eben einige auf der Strecke.“

Obwohl der Hunger alle Lagerinsassen gleichermaßen im Würgegriff hält, erleben wir doch sehr unterschiedliche Reaktionen. Von einem Sichfügen ins Schicksal bis zu erfindungsreichen Überlebenskünsten. Ein im Geist des Konfuzianismus erzogener ehrbarer „Rechter“ wird zum Meisterdieb, der auch seine Kameraden bei seinen Beutezügen nicht vergisst. Einem Arzt gelingt wider alle Erwartung die Flucht in sein Heimatdorf. Er wird nie mehr seinen alten Beruf ausüben, sondern es als Kräuter- und Pflanzenexperte zu spätem Ansehen bringen.

Die Interviewten vermitteln den Eindruck rückhaltloser Ehrlichkeit, sie verschweigen auch nicht, wessen sie sich schämen. Und alle eint der gemeinsame Antrieb: die Erinnerung an die wachzuhalten, die namenlos und ohne Grab sterben mussten.

Yang Xianhui: Die Rechtsabweichler von Jiabiangou. Berichte aus einem Umerziehungslager. edition suhrkamp, Frankfurt 2009, 16 Euro