Front gewordene Publizistik

NS-JOURNALISMUS Gerhart Weise war „Schriftleiter“ für Goebbels’ Zeitungen und Zensor in dessen Ministerium. Weises Tochter Eva Züchner hat der Karriere ihres Vaters nachgeforscht und ihre Ergebnisse veröffentlicht

Für das Gros der deutschen Journalisten bedeutete der 31. Januar 1933 keinen Einschnitt – wenn sie nicht gerade Juden, Kommunisten oder Sozialdemokraten waren. Ob begeistert, ob abwartend, sie machten weiter, sie passten sich an, wurden Rädchen und Schräubchen des nach der „Machtergreifung“ zügig aufgebauten nazistischen Propagandaimperiums. Wie sich die Karriere eines solchen „Schriftleiters“ entwickelte, zeigt Eva Züchner in ihrem beeindruckenden Buch „Der verschwundene Journalist“.

Eva Züchners Geschichte eines sensiblen, schreibgewandten, zum Zynismus neigenden, stets linientreuen Intellektuellen ist gleichzeitig die Geschichte ihres Vaters. Sie hat ihn nie kennen gelernt, denn kurz nach Kriegsende im September 1945, als sie drei Jahre alt war, wurde Gerhart Weise vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt und verstarb – wahrscheinlich – noch im selben Jahr in der Haft. Jahrzehntelang bewahrte sich Eva Züchner, von Beruf Kunstkuratorin und Archivarin, ein Bild ihres Vaters, das nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zurechtgebogen war. Spät hat sie sich daran gemacht, die Biografie ihres Vaters zu erforschen – rückhaltlos ehrlich, ohne jede nachträgliche moralische Überhebung.

Züchner hat jeden Artikel ihres Vaters, jeden Brief, jedes Zettelchen gelesen, jeden noch lebenden Bekannten oder deren Nachkommen aufgesucht, deren Nachlass studiert, sich durch die nazistischen Quellen gewühlt. Herausgekommen ist eine dichte Schilderung der Verhältnisse in den Redaktionen, denen Weise angehörte, und im Apparat des Propagandaministeriums, wo er bis zum Kriegsende als Zensor wie als Treatmentschreiber arbeitete. Weise, Liebhaber von Film und Varieté, machte sich zum Spezialisten des U-Boot- und Luftkriegs. Für den Angriff, ursprünglich Goebbels’ Berliner Kampfblatt, und für das Reich, von Goebbels initiiertes Wochenblatt für gehobene Ansprüche, schrieb Weise den Kampfeswillen stärkende Beiträge. Dabei scheute er vor rassistischem Vokabular nicht zurück und sprach beispielsweise von „vertierten Polen“, die angeblich deutsche Zivilisten ermordet hätten. Besonderen Beifall von Goebbels erhielt Weise für seine Reportage nach den alliierten Bombenangriffen auf rheinische Städte. Er lobte die soldatische Haltung der Zivilisten, die in diesen Tagen „Front geworden sind“. Der Waffenspezialist Weise war selbst nicht an der Front, sondern meist als unabkömmlich für die „Heimatfront“ freigestellt.

Weise, der gesinnungstüchtige Nazi, war nie Parteimitglied. Eva Züchner erklärt dies mit der Verachtung Weises für das dumpfe, kleinbürgerliche Milieu in der NSDAP. Weise hielt es lieber mit seinem Idol, dem Nazi-Starjournalisten Hans Schwarz van Berk, trotz seiner Jugend ein „alter Kämpfer“ und phantasievoller Abenteurer. Schwarz van Berk leitete das nach ihm benannte Büro im Propagandaministerium, dessen Aufgabe es war, Artikel mit Falschmeldungen im neutralen und feindlichen Ausland zu lancieren und damit zur Desinformation des Gegners beizutragen. Eine geheimdienstliche Arbeit ganz nach dem Herzen Weises, über deren konkrete Ausgestaltung Eva Züchner naturgemäß wenig in Erfahrung bringen konnte. Gegen Ende des Krieges ereilte Weise, den Durchlavierer, dennoch die Nemesis. Sein enger Freund Erich Ohser, berühmt unter dem Namen „o. e. plauen“ als Zeichner des Comics „Vater und Sohn“ und Mitarbeiter des Goebbels-Ministeriums, wurde wegen wehrkraftzersetzender Reden denunziert und verhaftet. Weise erhielt den Auftrag, die Glaubwürdigkeit der Denunziation zu beurteilen. Er stellte dem Denunzianten ein gutes Zeugnis aus und besiegelte damit Ohsers Schicksal, der sich dem Todesurteil durch Selbstmord entzog.

CHRISTIAN SEMLER

Eva Züchner: „Der verschwundene Journalist. Eine deutsche Geschichte“. Berlin Verlag 2010, 24 Euro