Jugendamt in der Kritik

Opposition und der grüne Teil der Koalition werfen dem Amt vor, die beiden verwahrlosten Mädchen zu spät aus der Familie genommen zu haben

von iken Bruhn

Schwere Vorwürfe erheben Grüne, CDU und FDP gegen das Amt für Soziale Dienste im Fall der beiden verwahrlosten Mädchen. Diese waren am Mittwoch in ein Kinderheim gebracht worden, nachdem Polizisten entdeckt hatten, dass die Kinder mit ihrer psychisch kranken Mutter in einer völlig verdreckten Wohnung lebten. Das „Hilfsnetz von Jugendamt, Gericht und Polizei“ sei „offenbar noch zu grobmaschig“, sagte gestern der Bürgerschaftsabgeordnete Klaus Möhle, der seit seiner Teilnahme am Untersuchungsausschuss „Kevin“ als kinderpolitischer Sprecher der Grünen auftritt. „Beim Kindeswohl darf nicht das Zufallsprinzip gelten“, so Möhle, er sei „entsetzt“. Die CDU warf dem Jugendamt, das die Familie seit 2004 kennt, vor, sich nicht genügend für eine Herausnahme der Kinder aus der Familie eingesetzt zu haben. „Verwahrlosung kann man doch nicht einfach so akzeptieren!“, empörte sich die CDU-Abgeordnete Rita Mohr-Lüllmann. Sie kündigte ein weiteres Nachhaken auf einer von der CDU beantragten Sondersitzung der Sozialdeputation an.

Der Leiter des Amts für soziale Dienste, Peter Marquard, wies gestern in einer Pressekonferenz die Vorwürfe zurück. Die Mitarbeiter des Jugendamtes hätten keine Fehler gemacht und alle Vorschriften befolgt, sagte Marquardt. Offen ließ er die Frage, ob die Vorschriften ausreichend seien oder ob es tatsächlich, wie von der FDP behauptet, „Lücken“ im System gebe.

So hatte das Jugendamt zwar im vergangenen Sommer versucht, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, sich dann aber zunächst damit abgefunden, dass das Familiengericht die Gründe dafür nicht als ausreichend ansah. Auch ein erneuter Anlauf im Dezember 2007 war gescheitert. Die arbeitslosen Eltern hätten außerdem Hilfsmaßnahmen abgelehnt und den Sozialarbeitern den Zutritt in die Wohnung verweigert, sagte Marquardt. „Da können wir nichts machen.“ Allerdings hätte das Amt ab März keine Meldungen mehr aus Kindergarten, Schule oder von der Polizei erhalten. Noch am letzten Schultag vor zehn Tagen sei die 43-jährige Mutter im Kindergarten erschienen und habe keinen auffälligen Eindruck gemacht, so Marquardt. Auch den Kindern sei es, den Beobachtungen von Erzieherinnen und Lehrerinnen zufolge, gut gegangen.

Das eingesetzte „Beobachtungssystem“, wie es eine Mitarbeiterin des Amts nannte, funktionierte allerdings nur während der Schulzeit. Deshalb konnte Heidrun Rose als Vertreterin der Sozialsenatorin auch nicht sagen, wann die Situation „eskaliert“ sei. Die Eltern hatten seit Februar niemand mehr in die Wohnung gelassen. Sie gehe davon aus, dass der Zustand der vermüllten und von Tierkot verdreckten Wohnung nie gut gewesen sei, sagte Rose, aber so schlecht, wie sie jetzt vorgefunden wurde, auch nicht. Sie gab zu bedenken, dass ein schlechter Zustand der Wohnung nicht ausreiche, um Eltern ihre Kinder weg zu nehmen. „Man darf in Deutschland so leben, auch mit Kindern.“ Nach Einschätzung der Sozialarbeiter hätten die Kinder eine positive Bindung zu ihren Eltern gehabt, sie seien außerdem nie physisch oder emotional misshandelt worden, das hätten Untersuchungen im Kinderheim bestätigt, so Rose. Anlass zur Sorge hätte nur die beobachtete körperliche Verwahrlosung gegeben. Marquardt sagte, hinter dem Fall verberge sich kein Versagen seines Amtes, sondern ein gesellschaftspolitisches Problem. In prekären Verhältnissen lebten viele Menschen.

Die Mädchen stehen seit gestern unter Amtsvormundschaft, die Mutter befindet sich im Krankenhaus. Der Vater hatte nach einem Bericht des Weser Kuriers die letzten zwei Wochen auf seiner Parzelle verbracht.