Theater
: Der Menschenfeind

Alceste ist ein radikaler Moralist, stets bedacht, die Wahrheit zu sagen. Dabei pfeift er auf den eigenen Vorteil, sonnt sich geradezu darin, für seine Ehrlichkeit bestraft zu werden. Es wäre naiv, anzunehmen, dass derlei nur im mittleren 17. Jahrhundert spielen könnte, als das Bürgertum sich gegen den Adel durchzusetzen begann und dessen Umgangsformen als überkommen kritisierte. Umgangsformen, denen zu gehorchen ist, kennt schließlich jede Herrschaftsform. Und so kreierte auch das Bürgertum, endlich zur herrschenden Klasse aufgestiegen, seinen eigenen Verhaltenskodex – die Steilvorlage für den Bremer „Menschenfeind“.

Wie einst das Bürgertum gegen feudale Konventionen rebellierte, stand die Generation der 68er gegen die Übereinkünfte ihrer Elterngeneration auf. Um hernach, so lehrt es dieser Abend, ihr eigenes bürgerliches Milieu zu kultivieren. Bei näherer Betrachtung ächzt die Analogie indes beträchtlich. Das Bürgertum hatte schließlich mehr auf der Agenda, als nur Umgangsformen zu kritisieren, es wollte Revolution. Zwar wird auch von einer Studentenrevolution gesprochen, doch folgte dem Aufstand keine Umwälzung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse.

Wo Alceste – als Adliger zwar, aber auch Rebell mit durchaus bürgerlichen Zügen – gegen den Adel rebelliert, ist hier der Konflikt in das rebellische Milieu selbst verlegt. Was eine andere Deutung nahe legt. Eine, die eben diese Rebellion selbst als mehr oder minder pubertären Aufstand wildgewordener Bürger gegen Ihresgleichen zeigt. Ungeachtet dessen ist dieser „Menschenfeind“ eine harmlose, aber unterhaltsame Aufführung, die in einem reizvoll minimalistischen Bühnenbild (eigentlich nur ein Schwung Matratzen, wie man das aus Kommunen ja so kennt) durchaus mit Charme ein ganz spezielles bürgerliches Sittengemälde zeigt. ASL

Freitag, 20 Uhr & Sonntag, 18 Uhr, Neues Schauspielhaus