„Ottilie, die Tomaten!“

Ehebruch als Experiment, Sprache als Aktionsersatz: Das Schauspielhaus wagt Goethes „Wahlverwandtschaften“

Mit beinah bewundernswertem Mut zum absehbaren Misserfolg hat sich das Bremer Theater an die Dramatisierung eines gewichtigen Textes gewagt: Goethes „Wahlverwandtschaften“. Marcel Klett, künftiger Leiter der Schauspielsparte, hat den zweibändigen Roman zusammen mit Regisseur Philip Stemann in eine Theaterfassung gebracht.

Der Anfang ist durchaus vielversprechend: Wie selbstverständlich surft das ohnehin souverän agierende Ensemble durch die altertümlichen Endlos-Sätze und entfaltet in komplexer Syntax die emotionale Situation der Protagonisten: Charlotte und Eduard, dekorativ auf einem Klavier platziert, langweilen sich miteinander. Abhilfe verspricht der Besuch einer Nichte sowie eines Freundes aus alten Offizierszeiten. “Nimm Ottilien, lass mir den Hauptmann“, sagt Eduard zu seiner Frau - und nicht nur der bildungsbürgerlich belesene Zuschauer weiß längst, dass sich diese Zuordnungen etwas anders sortieren werden.

Der Ehebruch als Experiment, der allem klüglich-aufgeklärtem Parlieren zum Trotz im Drama endet: Diese prototypische Versuchsanordnung wird ergänzt durch ungebetenen Besuch, der freigeistigen Schwung in das ländliche Setting bringt: Keine Ehe solle länger als fünf Jahre dauern, postulieren ein Graf und seine lebenslustige Baronesse, die sich 200 Jahre später bekanntlich in eine oberbayrischen Landrätin reinkarniert.

So weit, so gut, man denkt: Konversationstheater im besten Sinn. Kein überinszenierter Schnickschnack, sondern Text als Ausdruck innerer Aktion. Dann aber kommt der zweite Teil. Stemanns Versuch, dem Publikum doch noch etwas fürs Auge zu bieten, verliert sich in beziehungslosem Brimborium wie esoterischen Séancen und dem Nachstellen eines Gemäldes. Immerhin werden die Role Models klar: Leidenschaftlich wie eine häusliche Klaviermusik versucht Charlotte (Susanne Schrader), ihre Konkurrentin haushalterisch in Schach zu halten – „Ottilie, die Tomaten!“ – und übt sich ansonsten in stiller Entsagung. Tobias Beyer als Eduard hingegen macht den Midlife-gebeutelten Mittvierziger, der den jungfräulichen Jungbrunnen einer Jahrzehnte-überspringenden Liebe braucht. Und folglich keinesfalls auf das Ausleben seiner Triebe verzichten kann. Schön, dass Goethe dies höchst eigene Erleben (seine Ottilie hieß Minna Herzlieb) zur “Wahlverwandtschaft“ hochstilisiert. Praktischerweise lieferte die zeitgenössische Chemie den Begriff als Vorläufer der heutigen atomaren “Affinität“.

Teile des Publikums nutzen die interaktiven Potentiale des Theaters zur Setzung eigener Akzente. Zwar sind es nur wenige, die vorzeitig den Weg ins Freie suchen, doch jener Dame in Knallrot, die in einer besonders reflexiven Phase kurz vor Schluss die Tür geräuschvoll von Außen schließt, gelingt ein wirkungsvoller Effekt. Allerdings waren die SchauspielerInnen schon zuvor kurz vor dem dramaturgischen Verhungern: eine unfreiwillige Analogie zu Ottiliens Ableben aus Liebesgram, die „Eduarden zu entsagen“ sich entschlossen hat.

Was bleibt? Ein wunderbares Bühnenbild von Christian Müller voller Gerüste und Büsten, was nicht bedeutet, dass Goethe als Gipskopf allgegenwärtig wäre: Angedeutet wird lediglich die äußerliche und emotionale Baustellen-Situation samt allerlei antikisierenden Requisiten. Ungetrübtes Vergnügen bietet unter diesen Umständen einzig Johannes Flachmeyer als abgedrehter Architekt. Offenbar vom oder zumindest am Intendanten persönlich geschult, brilliert er durch gekonnte Haspler und verleiht der Inszenierung ein Quantum Humor, von dem es deutlich mehr vertragen hätte. Die von Ernst Stötzner in Bochum gelegte „Wahlverwandten“-Latte erweist sich als eindeutig zu hoch. HENNING BLEYL