Moderner als angenommen

AUSSTELLUNG Im Haus der Wissenschaft sind Zeugnisse des Umgangs mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen aus dem Mittelalter zu sehen

■ Vom 1. bis zum 4. März findet im Gästehaus der Bremer Uni auf dem Teerhof die internationale interdisziplinäre Tagung der Universität Bremen statt.

■ Unter dem Titel „Leibeigenschaften“ werden Phänomene der „Behinderung im Alltag der Vormoderne“ erörtert.

■ Am Freitag hält um 19 Uhr Dr. Irina Metzler einen öffentlichen Vortrag über „Behinderte Menschen im Mittelalter: Momente der Alltagsgeschichte zwischen Bedürftigkeit und Misstrauen“.

VON ANDREAS SCHNELL

Das Mittelalter gilt oft als finster, einschlägige Vorstellungen beinhalten stets größere Mengen Unrats und die spanische Inquisition, die allerdings erst im Spätmittelalter aktiv wurde.

Unterstellt ist häufig auch die Vorstellung, den Menschen sei es in jener Zeit überwiegend übermäßig schlecht gegangen unter der Knute von Kirche und Adel. Der Titel des Projekts „Leibeigenschaften“, das sich mit einer Tagung und einer Ausstellung mit dem „beschädigten“ Körper im Blick der Vormoderne beschäftigt, spielt natürlich auch auf die persönliche Verfügungsbefugnis eines Leibherrn über seine Leibeigenen an. Aber eigentlich geht es eben eher um den Leib und seine Eigenschaften, genauer: dann, wenn sie nicht einer angenommenen Norm entsprechen. Dass der Umgang mit beeinträchtigten Menschen in der Vormoderne „in mancher Hinsicht ‚moderner‘ war als gemeinhin angenommen“, betont Prof. Dr. Claudia Nolte vom Institut für Geschichtswissenschaft an der Uni Bremen in ihrer Einführung im Katalog zur Ausstellung.

Dabei sind natürlich schon Begriffe wie Behinderung oder Beeinträchtigung der Moderne entnommen. Im Mittelalter sprach man in diesem Zusammenhang von „Krüppeln“, „Lahmen“, „Tobsüchtigen“. Aber bedeutete das einen anderen Umgang mit diesen Menschen?

Die Ausstellung, kuratiert von Dr. Sonja Kinzler und in Zusammenarbeit mit der Bremer Kunsthochschule gestaltet, gliedert sich in vier Teile: Straße, Bett, Wallfahrtsort und Wunderkammer, wobei sich diese Bereiche gelegentlich überlappen. Die Straße steht für den öffentlichen Raum und damit auch für die Sphäre der Reproduktion, des Lebensunterhalts. Der wichtigste Unterschied zu heute: Im Mittalter waren die Familienbande noch deutlich stärker, aber auch das Gebot der Nächstenliebe galt in gewisser Weise verbindlich. Zwar gab es auch damals Bettler, doch gehörte es zur guten Sitte, ihnen beim Kirchgang etwas zu spenden. Und anders als heute war es einst selbstverständlich, dass die, die nicht oder nicht mehr arbeiten konnten, im Familienverbund betreut und gepflegt wurden – notgedrungen, denn Krankenhäuser im modernen Sinne kamen erst mit der Entstehung der Städte auf und waren zunächst begüterten Kreisen vorbehalten.

Was übrigens nicht bedeutet, dass eine Beeinträchtigung beruflichen Erfolg notwendig ausgeschlossen hätte. So zeigt die Ausstellung auch Thomas Schweicker, der ohne Arme Stadtschreiber von Schwäbisch-Hall wurde und überregionale Bekanntheit erlangte.

Die Abteilung „Wallfahrtsort“ bietet Einblicke in Heilungshoffnungen, die „Wunderkammer“ als Vorform des Museums informiert über die Wahrnehmung der Beeinträchtigten.

Allerdings: Vieles über die Lebensbedingungen beeinträchtigter Menschen im Mittelalter ist bis heute noch unerforscht – die Tagung „Leibeigenschaften“ (siehe Kasten) trägt den Stand der Forschung in den kommenden Tagen vor, wobei Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen wie der Geschichtswissenschaft, Anthropologie, Archäologie und Sozialwissenschaft zusammenarbeiten.

Angesichts des Themas versteht es sich natürlich fast von selbst, dass die gesamte Ausstellung soweit möglich barrierefrei ist: Nicht nur, dass der Eintritt frei ist. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten, Mobilitäts- und Sinnesbeeinträchtigungen können die „Leibeigenschaften“ mit Gewinn betreten. Termine für barrierefreie Führungen und Vorträge sind im Internet unter www.leibeigenschaften.de zu finden.

■ Eröffnung: Donnerstag, 17 Uhr, Ausstellung bis 30. 4., Haus der Wissenschaft