Statt Belle Epoque Familienfreizeit

Die Schweiz ist beschaulich, schön, teuer und ein Wanderparadies. Nach Tarasp-Vulpera im Unterengadin kamen die Gäste einst, um ihre Zipperlein mit mineralischen Quellen zu kurieren. Heute turnt hier der Robinson Club, und im Alpen-Nationalpark grüßt der Bär

VON EDITH KRESTA

Der Bär ist los im Engadin. Im Münstertal südlich des Ofenpasses soll er zwei Schafe gerissen haben. Dort im schweizerischen Alpen-Nationalpark wünscht sich mancher Naturfreund schon lange, der Bär möge wieder einwandern. Am 1. September 1904 wurde der letzte Bär in der Schweiz geschossen. Jetzt, hundert Jahre später, ist er wahrscheinlich aus dem Trentino zurückgekehrt. Und er wird freudig empfangen: Touristen strömen zuhauf in den Nationalpark, Pensionen sind trotz des schlechten Wetters ausgebucht, und in den Medien vom Graubündner über Die Südostschweiz bis zur Neuen Zürcher Zeitung ist der Bär Star, bis das Hochwasser ihn mit Katastrophenmeldungen verschluckt.

Nicht zurückgekehrt in die Kurregion Vulpera-Tarasp-Scuol im Unterengadin sind hingegen die Kurgäste. Und das, obwohl Wellness die Prospekte von Veranstaltern und Regionen wie kein anderes Marktsegment füllt. Schon Anfang des 18. Jahrhunderts kamen wohlbetuchte, oft auch wohlbeleibte Gäste zu Trinkkuren hierher. Über zwanzig Mineralquellen entspringen auf dem Gebiet von Scuol-Tarasp. Bekannt und geschätzt waren vor allem die Lucius- und die Emerita-Quelle. Die alte Buvetta, die große langgestreckte Trinkhalle, direkt am Inn gelegen, ist jetzt nur noch einmal in der Woche für eine Stunde geöffnet. Mehr lohnt sich nicht. Das ehemalige Kurhaus Tarasp (erbaut 1867), bislang eine Dependance des Robinson Clubs, steht verlassen. Bis zum Ersten Weltkrieg tummelten sich hier die Besucher. Sie blieben wochenlang, was bei der beschwerlichen und oft langwierigen Anreise über Flüela- oder Malojapass nicht wundert. Man frönte der Gesundheit und guten Gesellschaft in schöner Umgebung, man kurte mit Wasser von innen und außen und nebenbei wurde der Nachwuchs standesgemäß verkuppelt.

Der Kurgast Dr. Jacob Papon notiert im Jahre 1857 in sein Tagebuch: „Mein erster Gang galt als Kurgast natürlich der Heilquelle … Der kleine Raum um die Quelle wimmelt bei meiner Ankunft von Leuten, die sich drängten, um der Reihe nach ihre Gläser mit dem heilkräftigen Wasser zu füllen. … In der Tat schäumte das frisch aus der Quelle geschöpfte Wasser wie Champagnerwein … Auf den rings um die Promenaden angebrachten Bänken sitzen truppenweise Bewohner ferner und naher deutscher und italienischer Gegenden. Hier der federngeschmückte Spitzhut des Deutschen, dort der breitkrempige flache Hut des Welschen … Unter den übrigen Kurgästen fiel mir besonders auch die große Anzahl höchst korpulenter Personen auf. … Sie sollen, wie ich vernahm, hier selten vergeblich Abhülfe von den Beschwerden der Dickleibigkeit suchen. Wohlgenährte alte Herren mit dunkelroten Weingesichtern und rubinbesetzten Nasen suchen hier, wie der gläubige Hindu in den Fluten des Ganges, büßend in dem sonst verachteten Tranke die äußeren Merkmale ihrer Sünden abzuwaschen. Neben diesen an solchem Orte mehr tragikomischen Erscheinungen Leidende aller Art und Stände. Der elegante Fabrikherr mit galligem Teint und Glacéhandschuhen, Freund Staatshämorrhoidarius, neben ihm der stämmige Bündner Bauer, tyrolische Klostergeistliche, der regsame lombardische Kaufmann, eine starke Vertretung des schönen Geschlechts in rauschendem Seidenkleid wie in der anspruchslosen Tracht der Unterengadinerin. All dies trabt und trippelt hier durcheinander und unterhält sich in den verschiedensten Sprachen.“

Heute wird in Vulpera-Tarasp vor allem deutsch gesprochen. Und statt Glacéhandschuhen und rauschendem Seidenkleid sieht man Biker in körperenger, aerodynamischer Montur oder Golferinnen in nagelneuen Knickerbockern. Statt dunkelroter Weingesichter braungebrannte Körper. Statt Kurgelagen der Belle Epoque gibt es heute Familienfreizeit. Der Robinson Club hat sich im alten Schweizerhof in Vulpera niedergelassen und den kleinen Ort mit seinen 11 ständigen Einwohnern erobert. Im Club gibt es selbstverständlich Wellness mit Sauna und Massagen, aber eine klassische Trinkkur steht nicht auf dem Programm. Sie wird eher mit Krankheit als mit good life assoziiert. Und Krankheit passt nicht ins Versprechen von Fitness, Fun und Familie. Im Club ist und isst man gesund. Auf dem Programm stehen Wandern, Mountainbiken, Golfen, Tennisspielen oder im Winter Skifahren. Hier plagen nicht Gebrechen und Zipperlein, sondern allenfalls der Muskelkater vom Rafting im Inn. Hier trinkt man abends Tequila Sunrise, aber keine nach fauligen Eiern schmeckenden Wässerchen. Gesund wird man heute nicht mehr durch übelriechendes Quellwasser, sondern durch wohltuendes Tai-Chi.

Robinson setzt die touristische Tradition von Vulpera zeitgemäß fort. „Sport und Gefühl ist unsere Devise“, sagt der Regionalmanager der Robinson Clubs, Toni Weibl. Er ist seit 35 Jahren bei der Robinson-Familie dabei. Zuerst in Afrika, dann in Sizilien. Heute – wieder daheim – in den Alpen. „Ich stamme aus Chur und habe beim Vorbeifahren vor zwanzig Jahren den Schweizerhof entdeckt“, erzählt er. „Dieses Gebäude war eine Herausforderung für mich.“ Er hat sie glorreich bestanden: Der Club ist gut gebucht. Sommers, aber vor allem im Winter zum Skifahren.

Mit dem Brand des Hotels Waldhaus, 1989, des Wahrzeichens des großen Kurbetriebs von Vulpera, ist das deutlichste Symbol der Belle Epoque verschwunden. Das ganz aus Holz gebaute Waldhaus mit seiner verspielten Großherrlichkeit passte nicht mehr in die sportlichen neuen Zeiten. Zu teuer zum Restaurieren, zu schön und geschichtsträchtig, um in der aufgeräumten Schweiz dem Verfall preisgegeben zu werden: So waren die Flammen möglicherweise ein würdevolles Ende des alten Hotels. Vielleicht, so wird gemunkelt, eine heiße Sanierung.

Schloss Tarasp ist ein anderes Wahrzeichen der Region. Auch Empfänge, teure Events und klassische Konzerte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die restaurierte Anlage mit der neu renovierten Dresdner Orgel nicht sonderlich funktional, dafür umso teurer im Erhalt ist. Bislang wird Schloss Tarasp von dem hessischen Fürstengeschlecht alimentiert, doch die Zukunft ist ungewiss. „Auf jeden Fall“, so Jon Fanzun der Schlossverwalter, „sucht man nach öffentlicher Unterstützung, weil die Hessen verkaufen wollen.“

Die im weiten Tal auf einer Bergkuppe liegende Schlossanlage war einst eine Verheißung für den Dresdner Karl August Lingner. Bekannt wurde dieser als Schöpfer des Mundwassers Odol, mit dem er Millionen Umsätze machte. Lingner schätzte die gesundheitsfördernden Quellen und die Landschaft des Engadins und fuhr regelmäßig dorthin. Als er 1900 Schloss Tarasp in der Abendsonne vom Flüelapass aus liegen sah, soll er so begeistert gewesen sein, dass er noch im selben Jahr die Anlage für 20.000 Franken kaufte. Und das, obwohl er mit seinem Automobil nicht ins Engadin einfahren durfte. Dort war Autofahren nach zehn Volksentscheiden bis 1925 verboten. Das Automobil galt als gefährlich. Es verpeste nicht nur die Landschaft, sondern bringe auch Gefahr für Mensch und Tier. Erst nach einer Verfügung der Bundesregierung mussten die autofeindlichen Engadiner einlenken. 1925 durften auch im Engadin als letztem Teil der Schweiz Autos die Luft verpesten.

Lingner ließ sich von dieser Halsstarrigkeit nicht beirren: Ochsengespanne zogen sein Automobil von der österreichischen Grenze bis nach Tarasp. Das Schloss wurde von Grund auf renoviert und nur mit dem Feinsten ausgestattet: Bädern aus Delfter Porzellan, Haustelefon, einer Dresdner Orgel, Kupfergeschirr. Als Lingner im Jahre 1916 starb, war sein Schloss gerade bezugsfertig. Der Förderer der deutschen Zahnhygiene, der sich auch sonst aktiv um die deutsche Volksgesundheit und seine eigene Gesundheit bei regelmäßigen Kuren im Engadin bemühte, starb im Alter von 55 Jahren an Krebs. Eine Ausstellung im Schloss nähert sich der Person Karl August Lingner.

Heute ist im Unterengadin nicht mehr Kuren angesagt. Allenfalls besucht man bei schlechtem Wetter oder anhaltendem Muskelkater das Thermalbad in Scuol. Ansonsten geht man wandern oder biken im 172 km[2]großen Schweizer Nationalpark mit seinen 1.200 km Wegen, gut gepflegt und beschildert. Oder im Winter zum Skifahren auf die Hänge. Und selbst im abgelegensten Weiler wartet schon der gelbe Postbus, falls die Beine von zu viel Bewegung müde werden.

Markante Bergspitzen, Arvenwälder, Enzian, Alpenrosen, Gämsen, Murmeltiere, Steinböcke – bereits 1914 wurde der Schweizerische Nationalpark gegründet. Das Anliegen der Nationalpark-Pioniere ist nach wie vor aktuell: „Ein Stück Alpennatur vor der menschlichen Nutzung schützen und für kommende Generationen erhalten.“ Die Mühe wird belohnt: Neben dem hier ausgesetzten Bartgeier ist auch ein leibhaftiger Bär wieder da! Als Mythos lebte der in der Schweiz ausgerottete Bär ohnehin in unzähligen Geschichten und in den Kinderzimmern weiter: Im Jahr 1907 fertigte Steiff bereits 974.000 wirklich sympathische Bären.