Barcelona – die Stadt der Heimatlosen

Rund um die Carrer Escudellers und am Laufsteg der Stadt – den Ramblas. Mit Romanen und Gedichten auf den Spuren der Schriftsteller und Dichter durch die katalanische Hauptstadt. Beispielsweise zum echt kubanischen Cocktail in die Traditionsbar Boadas. Ein literarischer Bummel

Eduardo Mendoza beschreibt in „Die Stadt der Wunder“ den Aufstieg des Onofre Bouvila vom Flugblattverteiler der Anarchisten zum Magnaten und Filmmogul der 1920er-Jahre. Für die Barceloner spiegelt die Handlung während der Weltausstellung 1888 den Wesenskern der Stadt wider. Tief hinein in die Gesellschaftskonflikte zwischen Einwanderern und dem Industrieadel führen die Romane von Juan Marsé, wie etwa „Die obskure Liebe der Montserrat Claramunt“. Die Liebe zwischen der großbürgerlichen Montserrat und einem ehemaligen Häftling ist eher tragisch denn obskur und wird von ihrem Cousin Paco neun Jahr später erzählt. Ein grandioser Roman, wie auch sein neuestes Buch, „Liebesweisen in Lolitas Club“, das vom modernen Spanien erzählt. „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruíz Zafón handelt von den kriminellen Wirrungen um einen verschwundenen Autor und seinen größten Fan, der ihn im Barcelona der 1950er-Jahre sucht. Klassiker sind die Krimis von Manuel Vázquez Montalbán um den Privatdetektiv Pepe Carvalho. Besonders empfehlenswert: „Die Meere des Südens“ über die Lebenskrisen in der jungen spanischen Demokratie. Ebenfalls Klassiker sind die Romane von Mercè Rodoreda wie „Auf der Plaça del Diamant“. Rodoreda erzählt von der Bäckereiverkäuferin Colometa, deren selbstbestimmtes Leben vor dem Bürgerkrieg durch politische Umstände und Ehemann zerstört werden. Durch die Stimmung, politischen Hoffnungen und die verworrenen Zustände in Barcelona vor und während des Bürgerkriegs führt Max Aub in dem Meisterwerk „Das magische Labyrinth“, dessen erster Teil, „Nichts geht mehr“, in Barcelona spielt. Und in keiner Sammlung moderner Lyrik darf der deutsch-spanische Gedichtband „Die Personen des Verbs“ von Jaime Gil de Biedma fehlen. UFO

VON ULRIKE FOKKEN

Barcelona ist eine Stadt im ständigen Aufbruch. Es wird ausgebaut, abgerissen, wiederaufgebaut. Auch deshalb hat der Schriftsteller Eduardo Mendoza seine Geburtsstadt als „Stadt der Wunder“ bezeichnet, denn sie ist die einzige Stadt Spaniens, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem bemerkenswerten Aufstieg den Anschluss an die Metropolen der Welt gefunden hat. Alles scheint hier möglich. Auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Weg vom armen Einwanderer zum mächtigen Unternehmer nicht nur im Roman wie bei Eduardo Mendoza denkbar. Doch heute lockt das Versprechen nicht nur die Menschen aus den trockenen Weiten Spaniens. Sie kommen aus Argentinien, Pakistan, Ecuador und China „in die schöne, verpestete Stadt Barcelona, Hauptstadt der Emigrantenverlassenheit“ wie Juan Marsé, einer der ganz großen Autoren Barcelonas, schreibt.

Der ewige Wandel und die damit einhergehenden Brüche in der Gesellschaft haben die Schriftsteller der Stadt zu den besten Romanen und Gedichten inspiriert, die im 20. Jahrhundert in spanischer Sprache geschrieben wurden. Spanisch schreibende Autoren wie Mendoza, Juan Marsé, Ana María Matute, Jaime Gil de Biedma, Juan Goytisolo, Manuel Vázquez Montalbán und selbst der Bestsellerautor Carlos Ruíz Zafón führen zielsicher durch Zeit und Raum Barcelonas. Sie schreiben auf Spanisch, obwohl viele dieser Autoren in der Hauptstadt Kataloniens geboren sind und durchaus katalanisch sprechen. Das ärgert die nationalistischen Berufskatalanen dermaßen, dass sie zum Katalonien-Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse in der kommenden Woche nur reinrassig katalanisch schreibende Autoren bringen.

Sichere Anlaufstelle der Einwanderer und der Autoren sind stets die Stadtteile Raval und Born unten am alten Hafen. In diesen Gassen, „lang wie Gedärm“ (Ruíz Zafón), beginnt der soziale Aufstieg vom Obdachlosen zum Künstler, von der Hure zur Mätresse, vom Exhäftling zum Arbeiter. Aber Raval und Born waren und sind auch der gesellschaftliche Gegenentwurf zum Leben der auf Ordnung bedachten Bürger der Oberstadt aus Sarrià, Sant Gervasi, Eixample. Born und Raval sind das kollektive Unterbewusstsein der Bürger der Hügel am Tibidabo. Die Señoritos aus der Oberstadt hatten eine ganz besondere Vorliebe für das proletarische Ambiente. Der Schriftsteller Juan Goytisolo und der Dichter Jaime Gil de Biedma sind regelmäßig aus dem behüteten Sarrià hinabgestiegen und haben mit Knaben und Damen des Gewerbes ihre Nachmittage und Nächte dort verbracht. Besonders beliebt bei ihnen und den anderen „göttlichen Linken“ der bewegten 60er-, 70er- und 80er-Jahre waren die Bars und Etablissements rund um die Carrer Escudellers, in der das Hotel Cosmos steht. In der Hochzeitsuite des Cosmos machte Jaime Gil de Biedma exzessive Nächte mit wechselnden Männern durch, und Juan Goytisolo erfuhr dort mit seiner ewigen Liebe Monique die Ekstase der heterosexuellen Liebe. In der Nachbarschaft ist die Venta Andaluza, in der die Boheme staubtrockenen Manzanilla-Sherry trank und fritierte Fische mit den Fingern aß.

Sichere Anlaufstelle der Einwanderer und der Autoren sind stets die Stadtteile Raval und Born

Und auch heute im teilweise trendigen Born gibt es sie noch, die Armut und Gassen, durch die Passanten etwas schneller gehen, weil die trägen Bewegungen der Jugendlichen nichts Gutes verheißen. Zwischen diesen Vierteln aus dunklen Gängen und Gassen verläuft die Lebensader der Stadt: die Ramblas. Sie sind der Laufsteg und die beliebteste Flaniermeile der Barceloner. Von den Ramblas aus geht es ins Nachtleben, auf ihnen strömen die Barceloner in der Silvesternacht, am Ostersonntag, am Tag des Heiligen Jordi und an allen anderen Tagen. Die Ramblas sind Treffpunkt für Gaukler und Gauner, Barça-Fans, katalanische Nationalisten und Anarcho-Syndikalisten. Hier mischt sich das elegante Opernpublikum aus dem Liceu mit Touristen in Strandkleidung, afrikanische Einwanderer sitzen neben den Alten in Strickjacken auf den Bänken im Halbschatten.

Es gibt nicht eine Rambla, sondern viele, und das nicht nur wegen der verschiedenen Abschnitte, die alle 300 bis 400 Meter einen anderen Namen tragen und dem ganzen Boulevard den Namen „Las Ramblas“ eingebracht haben. Es gibt die Ramblas der lebenden Statuen, die in Bronzebemalung Kapitän Ahab oder eine trauernde Braut darstellen, die Ramblas der Blumenfrauen, die Federico García Lorca einst zu einem Theaterstück inspirierten, die Ramblas der Zeitungskioske, die nie schließen. Dieser Boulevard lebt, ja er ist eine „Metapher für das Leben“ wie Manuel Vázquez Montalbán schrieb. Und so ist es selbstverständlich, dass der von ihm erfundene Pepe Carvalho, Privatdetektiv in 23 Kriminalromanen und berühmtester literarischer Gourmet Barcelonas, sein Leben hauptsächlich auf den Ramblas und in den Etablissements drum herum verbringt. Einige kulinarische Klassiker sind verschwunden, wie das Sanlúcar auf der Ramblas de Santa Mónica, das einem Burger King weichen musste. Auch ist die legendäre Casa Leopoldo an den Ramblas del Raval nicht mehr das, was sie einmal war, als Montalbán und Carvalho sich dort „einer Diät aus Fisch und Weißwein“ verschrieben haben. Aber es gibt dort an diesem Laufsteg der Stadt noch die Bar Boadas, direkt an der Ecke Ramblas de Canaletes zur Carrer Tallers. Hier trank schon Hemingway Daiquiris, Henry Miller stimmte sich aufs Nachtleben im Raval ein, und Montalbán gehörte jahrzehntelang zu den Stammgästen. Das Boadas ist nicht nur eine Cocktailbar. Das Boadas ist eine Institution. Seit Miguel Boadas, ein Kubaner katalanischer Abstammung, 1933 die Bar eröffnete, ist sie Treffpunkt von Intellektuellen, Schriftstellern und Lebenskünstlern. Der dreieckige Grundriss der Bar bietet gerade genug Raum, dass sich die Gäste an den Borden entlang den Wänden und dem Tresen näher kommen können, aber auch in angenehmer Distanz zueinander einen exzellenten Dry Martini oder einen kubanischen Mojito trinken können. Die Barkeeper mixen auch den ausgefallensten Cocktail und kennen selbstverständlich die Vorlieben ihrer Stammgäste, von denen man irgendwie meint, sie schon einmal gesehen zu haben. Und sei es nur, dass man sie in den Romanen von Vázquez Montalbán oder Juan Marsé getroffen hat.

Die taz-Autorin und Spanienkennerin hat zu diesem Thema ein gerade erschienenes Buch veröffentlicht – Ulrike Fokken: „Barcelona. Literarische Streifzüge“. Artemis & Winkler, 2007, 19,90 €