Die Versuchung des Jürgen Rüttgers

Der Ministerpräsident von NRW schmeißt sich beim Eröffnungsgottesdienst an seine Mitchristen heran. Der CDU-Politiker fordert Globalisierung mit menschlichem Antlitz. Die Massen erliegen derweil den Versuchungen einer lauen Nacht am Rhein

von Philipp Gessler

Der Kirchentag an sich ist auch eine Versuchung – und zwar für jeden Politiker, jede Politikerin. Das Publikum ist meist groß und gesittet, hört brav zu und lässt sich mit eher schwammigen Appellen an Werte und Moral recht leicht zu Applaus bewegen. Jürgen Rüttgers (CDU), Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, nutzte die Chance in den ersten Stunden des Kirchentags beherzt: zum einen in einer länglichen Grußadresse nach dem Eröffnungsgottesdienst vor Zehntausenden auf den Poller Wiesen, zum anderen in einer „Bibelarbeit“ am nächsten Morgen zum Thema ... ja, Versuchung.

Laut Vorgabe der Organisatoren des Kirchentags, sollte Rüttgers eine Szene im Mätthäus-Evangelium auslegen. Darin wird Jesus nach 40 Tagen Fasten in der Wüste vom Teufel versucht. Der bietet ihm zuerst an, seinen Hunger zu stillen, dann Gott selbst seinen Willen aufzuzwingen, und schließlich – für Politiker wie Rüttgers vielleicht am brisantesten – ihm, Jesus, alle weltliche Macht zu schenken. Mit der kleinen Bedingung des Teufels, dass Jesus ihm dann dienen müsse, was der Mann aus Nazareth natürlich ablehnt.

Der Christdemokrat Rüttgers, das ist zu vermuten, würde dies auch tun. Denn er ist ja ein „Mitchrist“, wie der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes die Christen im Publikum am Eröffnungsabend etwas ranschmeißerisch ansprach. Da hatte der Landesvater jedoch das Pech, dass seine Rede etwas unterging, weil viele lieber zurück in die City wollten, statt dem Herrn Politiker da auf der Bühne zuzuhören.

Am nächstem Morgen klappte das besser, auch weil hierher nur kam, wer auch den CDU-Politiker hören wollte. Und Rüttgers wäre nicht einer der mächtigsten deutschen Politiker, wenn er nicht in seiner Auslegung der Mätthäus-Passage ganz schnell von Jesus und dem Teufel zur konkreten Politik käme, um dort ein paar Sympathiepunkte zu sammeln: Er wolle eine „Globalisierung mit menschlichen Antlitz“, sagte Rüttgers. Dieser weltweite Prozess müsse „politisch gestaltet werden“. Und – hört! hört! – die Vorschläge der Kritiker der Globalisierung sollten die verantwortlichen Politiker prüfen und „nicht vom Tisch fegen.“ Erstmals Klatschen des Publikums. „Ich meine die friedfertigen Kritiker.“ Zum zweiten Mal Klatschen. So erlag Jürgen Rüttgers der Versuchung, auch hier auf Stimmenfang zu gehen.

Versuchungen jedenfalls gab es an diesen beiden ersten Tagen des Kirchentags allerorten, und natürlich sind die einfachen Kirchentagsteilnehmer nicht dagegen gefeit, wie auch der Eröffnungsgottesdienst zeigte: Da tanzten bei der Acapella-Combo Wise Guys, ob der strahlenden Sonne, etliche junge Menschen nur leicht bekleidet vor der Bühne, so dass man ahnte, dass auch christliche Musiker manchmal in Versuchung geraten können. Vor allem aber saßen da die vielen christlich bewegten Menschen unter 20 und über 50 Jahren bei angenehmsten Temperaturen auf dem saftigen Gras und sangen und beteten und klatschten tapfer in der Masse. Und nur ganz wenige gaben der Versuchung nach, auf die Durchfahrtswege zu treten, die nur durch auf den Boden gelegte Seile markiert waren. Auf dem Rückweg konnte einige jedoch der Versuchung nicht widerstehen, den kurzen Weg über die Deutzer Brücker zu nehmen – obwohl das ausdrücklich verboten war. Da schimpften die Polizistinnen am nördlichen Brückenpfeiler genervt und ziemlich unchristlich, dass das nun wirklich verboten sei. Vergeblich.

Doch der anschließende „Abend der Begegnung“ in der Kölner Innenstadt blieb angenehm und menschlich: Das Volk Gottes feierte und trank ein bisschen, allerdings nur bis circa 23 Uhr, lachte viel, sang eine Menge – und betete vergleichsweise wenig. Denn dafür ist in den kommenden Tagen noch genug Zeit. Die Christinnen und Christen ließen den lieben Gott an diesem Abend um den Dom herum einfach mal einen guten Mann sein. Ist das schon eine Versuchung? Vielleicht sollte man dazu mal Jürgen Rüttgers fragen.