Hilfe holen und Teams bilden

ALLE MITNEHMEN Der Pädagoge Dieter Katzenbach zeigt im Projekt „Soziale Benachteiligung, Analphabetismus und Medienkompetenz“, dass gute Lehre auch widrige Umstände meistern kann

taz: Herr Katzenbach, steht es wirklich schon so schlimm um deutsche Schulen, dass Analphabetismus ein Thema wird?

Dieter Katzenbach: Jahr für Jahr verlassen 100.000 Schülerinnen und Schüler das deutsche Schulsystem, ohne richtig lesen und schreiben gelernt zu haben. Selbst einfachen Texten können diese Jugendlichen keinen Sinn entnehmen. Wir wollen die Frage beantworten: Wie ist zu erklären, dass die Vermittlung eines elementaren Bildungsguts in der Schule massenhaft scheitert?

Der Ruf nach Totalreform?

In Deutschland fehlt es nicht am fachlichen Know-how, aber die Unterrichtskultur muss sich ändern: Fachlehrer, Sonder- und Sozialpädagogen sowie Psychologen müssen im Team an der jeweiligen Schule zusammenarbeiten. Erst Hilfe zu holen, wenn Probleme mit Schülern virulent sind, ist zu spät. Wir brauchen Fachleute, die permanent vor Ort sind. Nachdem die UN-Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen 2008 in Kraft getreten ist, wird dieses Thema dringlich: Die Konvention betont, dass Bildung alle Beteiligten einbinden muss. Das bedeutet nicht nur das Aus für separate Förderschulen, auf die Behinderte hierzulande geschickt werden. Auch die deutsche Debatte um das mehrgliedrige System mit Haupt- und Realschulen wird dadurch infrage gestellt. Gefordert ist eine Schule, die wirklich alle mitnimmt.

Wie kann Unterricht dann aussehen?

Wir entwickeln mit jedem Schüler ein individuelles Lernangebot, arbeiten nicht mit fertigen Maßnahmenkatalogen – und wir nutzen die „neuen Medien“ als Türöffner in die Schriftkultur. Der PC ist dabei nicht nur Trainingsgerät, sondern Werkzeug zur Textproduktion und eignet sich zudem, das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Schüler und Pädagoge zu regulieren. Denn diese Schüler waren wiederholt kränkenden und entwertenden Beziehungserfahrungen im Kontext des schulischen Lernens ausgesetzt. Daher kann zu viel Nähe von den Pädagogen auf sie auch bedrohlich wirken.

Woher rühren die Blockaden?

Oft sind Lernwiderstände eine Form von Selbstschutz: Lernen ist für diese Jugendliche keine Herausforderung, sondern ein kaum kontrollierbares Risiko, das durch Misserfolg, Beschämung, Scheitern und Ausgrenzung geprägt ist. Wir begegneten zu Beginn unserer Arbeit offener Verweigerung, resignativer Passivität, Lustlosigkeit und besonders häufig der Selbstbeschreibung „Ich bin krank/ich bin behindert“. Wir nahmen aber diese Reaktion zum Anlass, gemeinsam mit den Schülern nach den Ursachen für diese Ängste und Sorgen zu schauen und positive Impulse, wie das Erstellen einer eigenen kleinen Web-Seite, zu vermitteln. Ein integrierender Förderansatz, der fachdidaktische Aspekte und sozialpädagogische Angebote verbindet, ist der Weg zu besseren Erfolgen. Doch dafür muss sich in der deutschen Schullandschaft noch einiges ändern. So sind beispielsweise Erziehungsberatungsstellen oder psychotherapeutische Dienste weder inhaltlich noch institutionell auf die Arbeit in der Schule abgestellt. Statt Nebeneinander müssen alle Beteiligten zu einem Miteinander in der Schule finden.

Ist das bezahlbar?

Die Angebote sind ja bereits vorhanden. Lehrer werden aber mit den komplexen Herausforderungen im Schulalltag alleingelassen. Auch der Ruf, Eltern müssten mehr Verantwortung übernehmen, hilft nicht weiter. Wir können uns weder neue Eltern noch neue Schüler backen. Die frühe Selektion durch das dreigliedrige Schulsystem stellt vor allem Hauptschullehrer vor enorme Aufgaben. Warum sollte nur ein Lehrer vor einer Klasse stehen? Sozialarbeiter, Erzieher – aber auch Nichtpädagogen – könnten viel zu einem erfolgreichen Unterricht beitragen. Langfristig werden damit Kosten gespart. INTERVIEW: LARS KLAASSEN