Offene Baustelle

Von der totalen Transparenz in die totale Überwachung: Ist den Piraten die Gefahr bewusst?

Es gibt einen Widerspruch bei den Piraten: Einerseits bekämpfen sie den „Überwachungsstaat“ – Vorratsdatenspeicherung, Funkzellenabfrage, Videoüberwachung –, andererseits geben viele von ihnen der Welt Informationen über sich, oft im Minutentakt. Manchmal eher unaufregende Tweets wie: „Sitze in der Fraktionssitzung“ – manchmal auch Intimes wie das Foto des eigenen Verlobungsrings.

Patrick Dreyer ist Fraktionsvorsitzender der Piraten in Schleswig-Holstein und Mitglied der Initiative „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“. Für ihn ist der Widerspruch nur ein scheinbarer: Der Unterschied zu einer zentralen Datenerhebung durch den Staat wie der Vorratsdatenspeicherung sei, dass Daten zwangsweise und flächendeckend gesammelt würden. Natürlich speicherten auch Facebook und Twitter Daten über ihre NutzerInnen: „Aber selbst wenn 80 Prozent aller Deutschen einen Facebookaccount hätten, wäre das immer noch nicht vergleichbar mit einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung durch den Staat, bei der sensible Daten erhoben werden.“ Das Entscheidende: Die Teilnahme an sozialen Netzwerken sei nicht verpflichtend, sondern „freiwillige Selbstgefährdung“.

Martin Delius, parlamentarischer Geschäftsführer der Berliner Fraktion, hält den Umgang der Gesellschaft mit Daten und neuen Informationstechnologien für „eines der bestimmenden Themen der politischen Generation, für die auch die Piraten stehen“. Es gebe angesichts der neuen Informationstechnologien ein gesteigertes Bedürfnis der Sicherheitsbehörden nach mehr Überwachung. „Die Angst, der freie Fluss von Information könnte zu Kontrollverlust führen, ist groß.“

Die Piraten haben der Furcht vor dem Überwachungsstaat viele UnterstützerInnen zu verdanken. Die Partei setzt sich gegen jegliche Versuche des Staates ein, durch Überwachung und Restriktion in das Leben seiner Bürger einzugreifen. Das genaue Gegenteil haben sie für den Berufsstand des Politikers im Sinn: vollständige Kontrolle durch die Wähler. Patrick Dreyer sagt, er sehe eine Pflicht zur totalen Transparenz für Volksvertreter in ihrer Funktion. Aber wo hört die Funktion auf, wo fängt der Privatmensch an? Es gibt innerhalb der Partei geteilte Ansichten darüber, inwiefern nicht nur Politiker, sondern auch ganz normale Bürger dazu übergehen könnten, auch ihr Privatleben im Netz mit allen zu teilen – Stichwort „Post-Privacy“.

Bei den deutschen Piraten ist die Trennung von Privatem und Politischem derzeit eine Grauzone, die jeder Pirat nach seiner Fasson handhabt. Es gibt Marina Weisband, bis vor kurzem politische Geschäftsführerin der Partei, die, wenn sie krank ist, Dinge zwitschert wie „Ab welchem prozentualen Verhältnis zwischen Medikamenten und Frühstück wird es bedenklich?“; es gibt aber auch Patrick Dreyer, der sein Profil weder Facebook noch Twitter anvertraut. Über seine mitteilungsfreudigen ParteifreundInnen sagt er: „Das ist eine persönliche Entscheidung, die wissen schon, was sie da tun.“ Doch schätzen die Piraten wirklich richtig ein, was sie alles von sich preisgeben? Selbst, wenn sie nicht wollen, dass der Staat Daten sammelt – sie laden ihn fast dazu ein. Und wer hält die Privatwirtschaft davon ab, in den privaten Daten der Menschen herumzuschnüffeln?

Wäre in Zeiten, in denen die Schufa Anstalten macht, die Kreditwürdigkeit der Deutschen anhand ihres Facebookprofils zu überprüfen, nicht mehr Vorsicht geboten? Natürlich könne man da ganz interessante Auswertungen vornehmen, sagt Patrick Dreyer. Bei aller Medienkompetenz seien auch die Piraten „nicht die Supermenschen“, die überblickten, was mit ihren virtuellen Äußerungen in letzter Konsequenz alles möglich sei: „Das kann auch mal ins Auge gehen.“MARGARETHE GALLERSDÖRFER