Tristesse verwalten

AUS ANKLAM UND BERLINJOHANNES GERNERT

Plötzlich soll sie reden. Barbara Syrbe, die Landrätin von Ostvorpommern, steht auf einem Podest vor dem Hafenbecken von Lubmin. Um sie herum: Männer in grauen, blauen und graublauen Anzügen. Ihr apricotfarbenes Kostüm leuchtet. Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern spricht von Knotenpunkten in der logistischen Transportkette. Syrbe hat die Hände gefaltet. Harald Ringstorff wünscht dem Industriehafen Lubmin Glück. Dann ist er fertig. Und jetzt soll sie ans Mikrofon. Syrbe zuckt kurz zusammen. Zögerlich geht sie drei Schritte vor. Sie hat kein Manuskript, sie dachte, die anderen reden, der Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister, die Unternehmer.

Also spricht Barbara Syrbe darüber, was sie und alle in Ostvorpommern beschäftigt. Sie sagt, dass der Lubminer Hafen Hoffnung bringt – auf neue Arbeitsplätze. Wenn anderswo ein Atomkraftwerk abgebaut werde, heiße das Ziel oft HGW. Herstellung Grüne Wiese. „Ich bin froh, dass hier nicht HGW entstehen soll“, sagt Barbara Syrbe. Die Leute klatschen und lachen. Die Hafeneinweihung ist ein fröhlicher Termin.

Es gibt nicht viele fröhliche Termine. Barbara Syrbes Alltag ist keine Hafeneinweihung. Die promovierte Philosophin ist eine von zwei PDS-Landrätinnen in Mecklenburg-Vorpommern. Hier muss Syrbe ein Hartz-IV-Gesetz umsetzen, das ihre eigene Partei ablehnt. Ihr Kreis muss 1-Euro-Jobs vergeben, die die PDS verteufelt. Doch sie sagt: „Ich bin Landrätin nicht für die PDS, sondern für den Landkreis.“

Sie ist die Landrätin einer „Optionskommune“. Eines Kreises, der sich ohne die Arbeitsagentur alleine um seine Arbeitslosen kümmert. Syrbe hat es so gewollt – trotz der hohen Arbeitslosenquote von über 20 Prozent. Obwohl ihre Partei dagegen war, obwohl anfangs alle Parteien im Kreis dagegen waren. Als sie hörte, dass Leute aus Nürnberg kommen würden, um hier eine Arbeitsagentur aufzubauen, dachte sie: „Das können wir selbst. Wir haben genug Arbeitslose, und zwar hoch qualifizierte.“ Sie hat sich mit dem Kreistag gestritten, mit der Landtagsfraktion der PDS und sie ist vor Gericht gezogen.

Am Ende hat sie die meisten überzeugt, auch vor Gericht haben sie gewonnen. Die Sozialagentur Ostvorpommern wurde gegründet. Motto: Bei uns haben Akten ein Gesicht. Auf die 60 neuen Stellen in der Agentur haben sich 1.700 Leute beworben. Heute sagt der Arbeitsminister der PDS, dass die Sozialagentur Ostvorpommern offensichtlich ein Erfolgsmodell ist.

Als Landrätin ist Barbara Syrbe auf das Gesetz eingeschworen. Das Hartz-IV-Gesetz verlangt, dass gefordert wird und gefördert. Das weiß der Kopf der Landrätin. Trotzdem fühlt sie: „Die Leute müssen sich nackig machen und sagen: Hier, ich hab kein Hemde mehr.“ In ihrem Bauch spürt sie manchmal eine gehörige Wut auf „diese komischen Politiker aus Berlin, die reden wie ein Blinder von der Farbe“. Weil sie nicht sehen, wie viel Arbeit auf der Straße liegt, die nur anständig bezahlt werden müsste. Bevor sie Landrätin wurde, hat Syrbe allerdings für diese komischen Politiker gearbeitet, wenn auch in Schwerin. Sie war stellvertretende Regierungssprecherin.

Vielleicht spricht deshalb oft ihr Kopf, nicht der Bauch. Die Agentur versuche nicht erfolgreich zu vermitteln, „weil wir Menschenfreunde sind“. Der Landkreis muss den Nicht-Vermittelten Unterkunft und Heizung zahlen. „Alles, was ich da ausgebe, fehlt bei Schulen, Straßen und so weiter.“ Der Basis kann sie das alles erklären, sagt sie. Die ärgern sich nur, dass sie nicht oft genug Zeit hat für deren Sitzungen.

Die Sozialagentur Ostvorpommern ist so menschenfreundlich wie möglich. Die Arbeitslosen treffen auf Mitarbeiter, die selbst arbeitslos waren, die wissen, wie sich das anfühlt. Es gibt keine Call-Center. „Ein Mensch will mit Menschen reden und nicht mit Maschinen oder mit Menschen, die wie Maschinen reden“, sagt Syrbe. Stattdessen gibt es 1.000 Euro Führerscheinförderung. Damit die Jugendlichen zur Arbeit fahren können. Es gibt ein Team aus Profis, das Existenzgründer-Ideen für Arbeitslose sammelt. 30 Existenzen sind so gegründet worden. Das freut die Landrätin.

Genauso wie die Hoffnung, die vielen Jobs, die der Lubminer Hafen bringt. 1.000 – auf lange Sicht. Das sind viele, aber dreimal so viele sind nach der Wende auch verloren gegangen, als das Kernkraftwerk geschlossen wurde. Das ist ihre Situation: In einer kahl geschlagenen Landschaft hilft Barbara Syrbe Bäumchen zu pflanzen. Und während sie sich über den Industriehafen freut, erfährt sie, dass der Schlachthof seine Schweinestrecke dichtmacht. Wieder 80 Leute ohne Arbeit. Manchmal könnte sie explodieren, sagt Barbara Syrbe.

Etliche Kilometer entfernt, im Berliner Bezirk Lichtenberg, soll ein interkultureller Garten eröffnet werden. Fußballplatzgroß, mit Beeten für Migranten und Einheimische. Das Grundstück liegt zwischen vier Plattenbaublöcken. Die NPD ist gekommen und Anwohner. Die Polizei ist auch da, wegen der NPD und wegen der wütenden Anwohner. Christina Emmrich, die Bezirksbürgermeisterin, stapft auf hochhackigen Schuhen durch den Sand des Gartengeländes und knickt fast um dabei.

Ein Rentner tritt auf sie zu. Er trägt eine Mütze in Deutschlandfarben, ein WM-Relikt. „Ein Kranker muss diese Idee gehabt haben“, flucht er. Dieses Interkulturelle, dieser Garten. Ohne die Bürger zu fragen. Emmrich steht ganz ruhig da und sieht ihm in die Augen. Sie will es ihm erklären. Sie hat es gestern schon allen erklärt, die sie angerufen haben, die angedeutet haben, dass sie auch NPD wählen könnten. Die Leute denken: Interkulturell bedeutet Ausländer bedeutet Grillen, Trinken, Lärm. Es gibt hier eine Gartenordnung, hat Christina Emmrich gesagt. Sie würde es auch dem fluchenden Rentner erklären, aber der lässt sie nicht. Irgendwann reicht es ihr: „Also, wenn Sie mich Hansel nennen, dann werd ich wütend.“

Christina Emmrich ist mitten im Wahlkampf. Im September wählen die Lichtenberger und Hohenschönhausener ihre Bezirksverordneten. Bisher hat ihre PDS dort eine absolute Mehrheit. Eine Partei, sagt Emmrich, „die ein Programm hat, das weit in die Zukunft blickt“. Eine Partei, die sich diese Zukunft mit „anderen Lebens- und Besitzverhältnissen“ vorstellen kann. Trotzdem muss sie die Gegenwart sehen: Eine Arbeitslosenquote von 16,7 Prozent und einen finanzschwachen Senat, der kürzt wo er kann. Sie muss die Arbeitslosigkeit verwalten und darf die Partei nicht vergessen. „Klar ist das ’ne Gratwanderung“, sagt Christina Emmrich. „Aber als gewählte Kommunalpolitikerin habe ich die Aufgabe zu sehen, dass die Leute mit dem Hier und Heute klarkommen.“

Lichtenberg hat etwa einen Antrag gestellt, dass Hartz-IV-Empfängern nicht das Wohngeld gekürzt wird, wenn sie einen Job ablehnen. Da würde man sich selbst Obdachlosigkeit organisieren, sagt Emmrich. Richtig hirnrissig. Sie sagt: „Rischtschhirnrissch.“

Der Bezirk kofinanziert 46 ABM-Stellen, mit 270.000 Euro, „um sie dem Jobcenter schmackhaft zu machen.“ Weil sie die für besser halten als 1-Euro-Jobs. Aber auch diese muss ihr Bezirk verteilen. Emmrich versucht sicherzustellen, dass die 1-Euro-Leute wenigstens mit ihren Aufgaben zufrieden sind. Einige, beobachtet sie, freuen sich gar über die 1-Euro-Anstellung, weil sie mal wieder rauskommen. Praktisch ist da ganz sinnvoll, was manche theoretisch verurteilen. „Menschen, die meinen, sie stehen links von mir“, sagt Emmrich. Oft seien die jünger und hätten die Beine noch „bei Mutti unterm Tisch stehen“. Sie versucht es auch denen klarzumachen.

Christina Emmrich glaubt, dass die Leute alles verstehen, wenn man zu ihnen geht und es ihnen erklärt. Sie hat deshalb den „Lichtenberger Weg“ eingeschlagen. Es gibt in ihrem Bezirk den ersten Bürgerhaushalt Deutschlands. Die Bürger können mitreden, wie 30 Millionen Euro aus dem Etat verwendet werden. Damit sie verstehen, wie die Finanzen eines Bezirks funktionieren.

Christina Emmrichs eigener Weg begann in der DDR. Sie ist 1948 in Leipzig geboren. Sie hat sich neues Vokabular angewöhnt, aber keinen anderen Dialekt. In den Achtzigern hat sie für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund Frauenarbeit gemacht: Frauenförderpläne, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Heute kümmert sie sich um „Gender Mainstreaming.“ Darum, dass es Spielplätze gibt, mit denen auch Mädchen etwas anfangen können, mit Beachvolleyballfeldern neben dem Bolzplatz.

Angekommen ist Chistina Emmrich im neuen Deutschland, aber sie hat ein bisschen DDR mitgenommen. Das verteidigt sie jetzt. Auch wenn es Ärger gibt. Wie vor einigen Monaten bei der Diskussion um die Gedenkstätte am ehemaligen Stasi-Knast Hohenschönhausen. Sie verlangte, Stasi-Mitarbeiter als Zeitzeugen zu hören. Sie fordert Differenziertheit. DDR sei nicht nur das Ministerium für Staatssicherheit gewesen. Und selbst dieses habe auch sinnvolle Dinge getan. Außenaufklärung etwa. Sie sagt nie „Stasi“, immer „ das Ministerium für Staatssicherheit“. „Da leg ich Wert drauf.“

Bei der Eröffnung des Gartens ist Christina Emmrich die letzte Rednerin. Sie nimmt das Mikrofon und ruft den Anwohnern hinterm Bauzaun zu: „Kommen Sie rein. Nur dann können wir miteinander reden.“ Aber draußen steht vor allem die NPD.