Geteilte Leben

20 Frauen wollten im Mai 1989 „Miss Leipzig“ werden. Der Fotograf Gerhard Gäbler hat die Kandidatinnen zu Hause und bei der Arbeit porträtiert. Als er 18 Jahre später wiederkommt, hat sich vieles verändert

Von David Denk

Als Gerhard Gäbler Ines K. im Sommer 2007 bei ihr zu Hause besucht, wohnt die mittlerweile 42-Jährige immer noch in der kleinen Plattenbauwohnung, in der Gäbler sie 1989 fotografiert hat. In ihrer Wohnung hat sich in den 18 Jahren wenig verändert – vor der Tür die ganze Welt. Deswegen kommt Gäbler 2007 auch nicht allein, sondern in Begleitung des Berliner Filmemachers Gunther Scholz, mit dem zusammen er – jeder in seinem Medium – ein Projekt fortschreiben möchte, das Gäbler als Student begonnen hat.

Ines K. war eine der zwanzig von Gäbler porträtierten jungen Frauen, die im Mai 1989 um den Titel der „Miss Leipzig“ konkurrierten – ohne zu ahnen, dass die Verhältnisse, in denen sie lebten und die viele bedrückten, sich sehr bald radikal ändern würden. Als die Mauer fiel, waren sie um die 20, als Gäbler wiederkommt, sind sie doppelt so alt und haben im wiedervereinigten Deutschland viele Erfahrungen gesammelt, auch die, dass Freiheit nicht automatisch glücklich macht.

Arbeitslosigkeit, gescheiterte Ehen, auf Eis gelegte Träume – die Lebensgeschichten der neun Teilnehmerinnen, die Scholz für seinen Dokumentarfilm auswählt, diktieren den melancholischen Tonfall von „Sag mir, wo die Schönen sind“. „Mir geht’s im Moment mal so, mal so“, sagt Viola M., als Scholz sie besucht. Die Dreharbeiten fallen in die Zeit der Trennung von ihrem Mann. „Wenn die Beziehung auseinandergeht“, sinniert die Mutter von zwei Kindern, „geht auch ein Stückchen Leben mit weg.“ Und dann fließen Tränen. Aber Viola M. springt nicht etwa auf und läuft weg, sondern teilt ihre Trauer und Enttäuschung mit Scholz und seinem Publikum – ein intimer Moment von vielen, die seine Schönen ihm schenken.

Ein anderer ist, als Grit P. und ihr Mann auf einem Krankenhausflur mit dem Leuchten werdender Eltern im Gesicht erzählen, dass an ihrem Sohn „alles dran“ sei. Anders als bei mancher ihrer „Miss Leipzig“-Mitstreiterinnen ist dies hier zweifellos ein Wunschkind, das in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwachsen wird – in Dubai. Dort und in Berlin betreibt Grit P. eine auf Luxusgüter spezialisierte PR-Agentur. Sie hatte mit dem Osten schon abgeschlossen, bevor die Mauer fiel: Aus dem Ungarn-Urlaub folgte sie ihrem damaligen Freund in den Westen, einfach so, ganz spontan. „Dass mich das noch mal einholt, hätte ich nicht gedacht“, sagt sie, und man weiß nicht, ob sie die DDR meint oder nur die Aufnahme von 1989, die Scholz ihr vorspielt: „Ich finde, man sollte jede Gelegenheit nutzen, um entdeckt zu werden.“

Vom großen Ruhm träumten die meisten „Miss Leipzig“-Kandidatinnen 1989, damals in der DDR. Im wiedervereinigten Deutschland sind sie nicht berühmt geworden und nur manche glücklich. Dieser eine Tag im Mai 1989 hat ihr Leben nicht verändert – das war der Mauerfall.

Mehr Bilder von Gerhard Gäbler zeigt die Ausstellung „Die geteilte Zeit. Fotografien aus vier Jahrzehnten“ vom 26. August bis 15. November im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig. Am 4. März um 19.30 Uhr läuft „Sag mir, wo die Schönen sind“ in Anwesenheit der Macher im taz-Café, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin