Überleben in der Krise: Keine Ausflüchte machen

Shigeaki Ohara lebt auf der Straße, Daisuke Murata managt ein Traditionsunternehmen. Beide aber reagieren relativ gelassen auf die Krise. Teil 1 der taz-Serie zum G-20-Gipfel in London.

Die Japaner nehmen die Krise relativ gelassen. Bild: dpa

Shigeaki Ohara trägt statt eines Schals ein Handtuch um den Hals gewickelt. Daisuke Murata hat ausnahmsweise eine thailändische Krawatte mit Elefantenmuster umgebunden. Ohara ist 55 Jahre, lebt in Tokio. Murata ist 47 Jahre, lebt in Kioto. Würde man die beiden Männer nebeneinanderstellen, gäbe es kaum Gemeinsamkeiten. Ohara ist ein obdachloser Arbeitsloser, der schon seit fünf Jahren in einem Zelt unter einer Tokioter Autobahnbrücke lebt. Murata hingegen führt seit 2003, als sein Vater die Leitung abgab, das global tätige Renommierunternehmen Muratec aus Kioto. Ihre Stellung in der Gesellschaft könnte unterschiedlicher nicht sein. Doch in Japans größter Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ähneln sich ihre Reaktionen. Je länger man die beiden beobachtet, desto enger erscheint plötzlich ihre Verwandtschaft. Sie demonstrieren Japans eigene Rationalität im Umgang mit der Krise.

Ohara sitzt erschöpft auf der Uferböschung des Flusses Sumida in Tokio. Seit drei Uhr morgens ist er auf den Beinen. Im Park am Flussufer blühen bereits die ersten Pflaumenbäume, doch die Witterung ist bitterkalt. Vom Pazifik weht eine steife Brise. Ohara trägt einen dünnen blauen Trainingsanzug und Sandalen. Wärmere Kleidung besitzt er nicht. Sein Hab und Gut - Zelt, Futon, Küchengerät - hat er unter einer blauen Plastikplane sorgfältig zusammengeräumt. Er erwartet an diesem Vormittag um 10 Uhr die monatliche Inspektion der städtischen Behörden.

Wenn alles sauber sei, werde er nicht weggejagt, sagt Ohara. Also haben er und ein Dutzend Zeltgenossen unter der Autobahnbrücke im Tokioter Armenviertel Sanya das Parkufer gefegt und beharkt. Keine Zigarettenkippe ist mehr zu sehen.

Das ist typisch für Sanya. Man merkt dem Viertel äußerlich nicht an, wie arm die Menschen hier sind. Kein Müll, keine Bruchbuden, nur die üblichen Tokioter Schachtelbauten mit ihren schmalen Gassen. Doch viele der Bewohner sind heimatlose Tagelöhner, die in den zahlreichen, nach außen kaum kenntlichen Auffangheimen von Sanya eine notdürftige Unterkunft haben. Zwischen fünf und sechs Uhr morgens sieht man die Leute draußen auf der Straße vor den beleuchteten Getränkeautomaten warten. Sie tragen Bauarbeiterkleidung, stehen in kleinen Grüppchen und trinken Dosenkaffee. Dann brausen Kleinbusse heran und laden die Leute ein. Die Busse gehören den Arbeitsvermittlern der Yakuza-Mafia, die in Sanya die Tagelöhner für Tokios Baustellen besorgen.

Ohara lässt sich auf die Mafia nicht ein. Deswegen kann er sich keine Unterkunft leisten und muss das ganze Jahr draußen leben. Er ist unrasiert, seine Augen sind halb geschlossen. Seit drei Uhr morgens hat er Dosen gesammelt. Ohara zeigt auf zwei riesige durchsichtige Plastiksäcke voller leerer Aluminiumdosen. Das sei sein Tageswerk, weniger als an anderen Tagen, weil man ja um 10 Uhr die Inspektoren empfangen müsse. "Sonst wäre ich noch unterwegs."

Zur gleichen Tageszeit sitzt Daisuke Murata in seiner Kiotoer Firmenzentrale vor einem naiven Landschaftsgemälde und studiert einen Faxbrief aus Taiwan. Wie jeden Morgen hat er um halb sieben mit seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn in ihrer kleinen Apartmentwohnung gefrühstückt. Sie ist Gehirnforscherin. Er habe spät geheiratet, der Sohn sei sein einziges Hobby, sagt Murata. Privat fahre er Golf. Er gilt als Jungstar unter Japans Unternehmern. Sein altes Familienunternehmen Muratec ist in Japan so bekannt wie Bosch in Deutschland. Es zählt zu den weltweit führenden Textilmaschinenherstellern. Muratec stellt aber auch Faxgeräte und modernste Roboter her. Die Firma war bislang ein Inbegriff für die technologische Stärke der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt: 4.000 Angestellte, 1,5 Milliarden Dollar Umsatz.

Doch jetzt hat Murata riesige Probleme. Seine Firma ist Spezialist für Wickelmaschinen, wie sie in jeder Textilfabrik benötigt werden. Im März vor einem Jahr lieferte er noch 12.000 solcher Maschinen in alle Welt, in diesem März sind es nur noch 1.200 Maschinen. Um 90 Prozent ist der Absatz innerhalb eines Jahres gesunken. Ständig gebe es neue Hiobsbotschaften, sagt Murata und zeigt auf den Faxbrief. Ein Kunde aus Taiwan steht vor dem Bankrott und kann die schon gelieferten Maschinen nicht bezahlen. Hohe Verluste drohen. Außerdem muss Murata heute über die Schließung seiner letzen Faxfabrik in Japan verhandeln. Sein eigenes Management behauptet, die Geräte nur noch in China rentabel herstellen zu können. Murata hat allen Grund zum Verzweifeln. Genauso wie der obdachlose Ohara.

26 Jahre habe er in einer Spedition gearbeitet. "Ich will in mein normales Leben zurück", sagt Ohara. Aber er hat die Arbeitssuche aufgegeben. Ab 50 sei die Suche sinnlos.

Trotzdem geben Ohara und Murata nicht auf. Sie klagen nicht. Sie erheben keine Ansprüche gegenüber der Regierung. Sie machen einfach weiter.

Jeden Tag sammelt Ohara seine Dosen. Er geht von Getränkeautomat zu Getränkeautomat, es gibt sie in Tokio an jeder Straßenecke. Er macht das gewöhnlich zehn Stunden am Tag. Die Krise sei für ihn ein Grund, noch mehr zu arbeiten, sagt Ohara. Das ergebe sich aus dem Fall der Aluminiumpreise. Noch im vergangenen Sommer während der Olympischen Spiele in Peking hätte die Stadtverwaltung 160 Yen, umgerechnet 1,30 Euro, pro Kilo Dosenaluminium gezahlt. Da er am Tag bis zu 10 Kilo sammelt, hätte er damals ordentlich verdient. Heute aber liegt der Aluminiumpreis pro Kilo, den die Stadtverwaltung zahlt, bei nur noch 35 Yen, umgerechnet 28 Cent. Schuld sei die Weltwirtschaftskrise. "Solange es der Wirtschaft in den USA gut ging, konnte China viel an die USA verkaufen und nahm deshalb unsere Dosen ab. Da war der Preis hoch", sagt Ohara. Aber jetzt wollten die Amerikaner ja nicht einmal mehr Toyota-Autos kaufen. "Sogar Toyota hat kein Geld mehr. Da trifft es natürlich auch uns."

Ohara sieht sich als Opfer der Krise und findet dafür Erklärungen - auf dem anonymen Weltmarkt. Schuldzuweisungen folgen daraus nicht.

Im Bewusstsein unterscheidet sich seine Reaktion daher gar nicht so sehr von der Art und Weise, wie Murata die Krise zu meistern versucht.

"Wir hatten eben einen großen Streit", sagt Murata. "Mein Manager wollte die Faxfabrik schließen. Aber ich habe ihm gesagt: Mach weiter!"

Murata schaukelt voller Anspannung mit einem braunen Sitzungsstuhl im Konferenzsaal neben seinem Büro. Vor wenigen Minuten saßen noch sein Vater, der Ehrenpräsident seiner Firma, sein Bruder, der Finanzchef ist, und seine Chefmanager neben ihm. Sie alle waren skeptisch, ob sich die Faxgeräte-Produktion in Japan noch lohnt. Aber Murata blieb hart. Jetzt wirkt er erleichtert. Er erklärt, was er gerade in der Runde erklärte: dass Muratec seiner Faxsparte viele Synergieeffekte beim Bau von Textilmaschinen verdanke und dass die Textilmaschinenhersteller in aller Welt ihn gerade um seine Faxingenieure beneiden.

Plötzlich spürt man seinen unternehmerischen Eifer. Er beugt sich nach vorn, gestikuliert. Es geht ihm ums Ganze. Er will seinen technologischen Vorsprung verteidigen. Bitterböse spricht er von den deutschen und italienischen Textilmaschinenbauern, die ihre Technologie nach China verkauft hätten. Heute seien seine gefährlichsten Wettbewerber Chinesen mit deutscher und italienischer Technologie. "Die denken kapitalistischer als wir alle", rügt er ihre Ruchlosigkeit und beneidet sie doch: "Die haben genau die jungen, hungrigen Ingenieure, die wir in Japan nicht mehr finden."

Wie aber kann sich seine Firma gegen die neuen Verhältnisse wappnen? Er lehnt sich zurück, entspannt ein bisschen. "Wir machen das, was wir am besten können: gründlich arbeiten!", sagt Murata. Keine Ausrede, keine Schuldzuweisungen. Wie bei Ohara, dem Obdachlosen. Nur kämpfen müssen beide mehr denn je.

Ohara hat bei den niedrigen Aluminiumpreisen auch nach zehn Stunden Dosensammeln kaum genug Geld fürs tägliche Essen. Murata kann auf Jahre hinaus nicht mehr mit Gewinnen rechnen.

Gehälter gekürzt

Ein Familienunternehmen wie seines könne harte Zeiten ertragen, sagt Murata trotzig. Er müsse keinem Investor gehorchen. Aber er hat 500 Arbeitern mit Zeitverträgen gekündigt. Es hat ihm wehgetan. Weitere Kündigungen will er erst aussprechen, wenn er ganz sicher ist, dass es wieder bergauf geht. Sonst könnte der Zusammenhalt in der Firma verloren gehen. Außerdem hat Murata die Gehälter gekürzt: Der Vorstand bekommt 35 Prozent, das Management 10 Prozent und die Arbeiter 5 Prozent weniger. Er gehe jetzt jeden Tag durch die Büros und Fabriken, sagt Murata. In der Krise dürfe sich der Chef nicht einfach hinter seinen Schreibtisch setzen, sondern müsse Gesicht zeigen.

Er hängt jetzt jeden neuen Auftrag, und ist er noch so unbedeutend, an die große Glocke. Damit die Leute spüren, dass es weitergehe. Er will seine Forschungsausgaben, die je nach Sparte bei 2 bis 5 Prozent des Umsatzes liegen, nicht kürzen. Das sei mehr, als die meisten für Forschung ausgeben. Zwei Jahre könne er bei der heutigen katastrophalen Auftragslage so durchhalten, das schaffe weltweit kein zweites Unternehmen der Branche. "Wir werden nicht untergehen", sagt Murata. Genau das hat sich auch der obdachlose Ohara nach fünf Jahren unter der Autobahnbrücke bewiesen: Er wird nicht untergehen.

Ruhig, zäh, diszipliniert: So bewältigen Ohara und Murata die Krise. Dem westlichen Beobachter kommt es dabei vor, als wären sie nicht unglücklicher als sonst.

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