„Es gibt nie nur eine Version“

ETHIK DES JOURNALISMUS Als Kriegs- und Krisenreporterin reist Carolin Emcke durch fremde Länder und hinterfragt dabei auch das eigene Selbstverständnis und ihren Beruf

Caroline Emcke auf dem taz-Kongress: Die 1967 geborene Journalistin wurde mehrmals für ihre Kriegsberichterstattung ausgezeichnet Foto: Petra Griesser

INTERVIEW JUDITH SCHACHT UND BARBARA BACHMANN

taz: Frau Emcke, Sie berichten seit Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten. Sie waren in Afghanistan und Pakistan. Warum sind Geschichten, warum ist Berichterstattung aus Krisengebieten überhaupt so interessant?

Carolin Emcke: Warum sollte mich Bayern mehr interessieren als Afghanistan? Um bei dem Beispiel zu bleiben: Afghanistan interessiert mich persönlich, weil es eines der schönsten Länder ist, die ich kenne, aber auch, weil da Menschen sterben, Soldaten und Zivilisten, weil dort strukturelle Gewalt gegen Frauen oder Homosexuelle immer noch üblich ist, weil wir das Privileg, verschont zu sein von solchen Erfahrungen, hier in Berlin nicht für selbstverständlich nehmen sollten.

Für wen schreiben Sie? Für die Menschen vor Ort? Oder für die in Deutschland?

Das hat sich sehr verändert. Als ich zu schreiben begann, dachte ich an die Öffentlichkeit „zu Hause“. Mittlerweile denke ich auch an die Menschen, über die ich schreibe. Das ist eine deutlich andere Perspektive. Ich male mir aus, ob sie sich darin wiedererkennen könnten, ob es auch ihre Nöte artikuliert. Das hat allerdings auch seine Grenzen. Weil es eben kulturelle Unterschiede gibt, weil es andere Werte gibt, andere Vorstellungen von Intimität, Sexualität, Privatheit und Öffentlichkeit, die ich nicht teile und deswegen auch in Texten nicht reproduzieren will. Da schreibe ich dann eben doch als eine Autorin aus Berlin für die hiesige Öffentlichkeit. Ich glaube, es ist ein Prozess des dauernden Übersetzens, zwischen Sprachen und Sensibilitäten.

Sie geben Betroffenen eine Stimme. Werden diese Stimmen auch gehört?

„Ich glaube, es ist ein Prozess des dauernden Übersetzens, zwischen Sprachen und Sensibilitäten“

Ob es gehört und verstanden wird – das ist dann nicht mehr in meiner Hand. Aber natürlich mache ich mir oft Sorgen, ob die Texte gut genug sind, ob ich mich genug angestrengt habe, ob ich die richtige Form, die richtige Sprache gefunden habe, diese fremden Erfahrungen in eine hiesige Vorstellungswelt zu übersetzen. Denn davon hängt es ja ab: das Einfühlungsvermögen, die Empathie, die Anteilnahme – und letztlich auch eine gelungene Form von Geschichtenerzählen in Zeiten der Globalisierung –, ob die Erzählung verständlich ist, ob die Fremden uns nahe kommen, ohne dass wir sie einfach angleichen oder eingemeinden. Ob sie als andersartig, aber gleichwertig erkennbar werden.

Ist denn Journalismus Geschichtenerzählen?

Natürlich. Jeder Text erzählt eine Geschichte: von Menschen, einer Erfahrung, einer Begebenheit, einem Ereignis. Es gibt niemals nur eine Form, einen Text zu schreiben. Niemals nur eine Version einer Begebenheit. Insofern sind es immer Geschichten, die einen Erzähler und einen oder mehrere Perspektiven, Stimmen oder Tonlagen haben, und wir erzählen sie jemandem, manchmal bewusster, manchmal ohne konkrete Vorstellung davon, wer das sein könnte.