Tacos statt Tamiflu

ALLTAG Die Mexikaner bleiben locker. Im Süden von Mexiko-Stadt ist von einer Pandemiepanik nichts zu spüren

In den Gesprächen geht es darum, ob den Gringos ein Laborexperiment entglitten ist

AUS MEXIKO-STADT NILS BROCK

Im morgendlichen Stau von Mexiko-Stadt. Die meisten Fahrer tragen ihren Mundschutz lässig um den Hals baumelnd. Auch die Fußgänger nehmen es mit den Empfehlungen des Gesundheitsamtes nicht genau. „Selbst wenn ich eines von den Dingern wollte, in den Apotheken sind sie ausverkauft“, meint Enriqueta Rosos, die wieder einmal eine Doppelschicht im Supermarkt Oxxo auf der Avenida Medellin schiebt. Ja, ihr Arbeitgeber hätte allen Angestellten geraten, sich zu schützen. „Aber das ganze Gerede von der Schweinegrippe ist am Ende doch nur Panikmache. Ich kenne niemanden, der betroffen ist. Hier im Viertel ist alles beim alten.“

Im Stadtteil Roma Sur, im südlichen Zentrum Mexiko-Stadts, geht alles seinen gewohnten Gang. Die Ladenbesitzer rund um den Mercado Medellin scheuern die Fußwege mit Chlorlauge. An jeder zweiten Ecke bieten fliegende Händler Tamales an, ein populäres Maisgericht. Nur Baguette gibt es seit vier Tagen nicht mehr. Der französische Bäckermeister Michel hat sich mit Frau und Tochter im ersten Stock über der Backstube verschanzt, macht per Funktaxi nur noch die nötigsten Besorgungen im Supermarkt.

Doch auch wenn sich die Angestellten der Grillhähnchenbude „Pollos Sinaloa“ noch so sehr über den übervorsichtigen Bäcker amüsieren – ganz Mexiko schwankt seit letztem Freitag zwischen Abgeklärtheit und einem besorgten Blick auf die Meldungen zur Schweinegrippe. Waren die letzten Monate in der mexikanischen Medienlandschaft dominiert von einem täglichen Bodycount der Opfer des „Kriegs gegen die Drogen“, so bündelt sich derzeit alle Aufmerksamkeit in den aktuellen Statistiken zu den am Virus Erkrankten und Verstorbenen. Die Zahlen schwanken stetig. Das hauptstädtische Gesundheitsministerium sprach noch am Dienstag von 22 Todesopfern und 45 stationär betreuten Verdachtsfällen. Erst am Abend wurden diese Zahlen auf landesweit 7 Todesopfer nach unten korrigiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht zudem inzwischen von mehr Infizierten in den USA aus als in Mexiko.

Doch die Nachrichten des Tages konzentrierten sich auf ein Thema: „Angstkäufe“. Zeitungsverkäufer Guillermo Mendoza kann da nur den Kopf schütteln. „Die ganze Sensationshascherei in der Presse ist mir zuwider. Ich glaube eigentlich nur noch den öffentlichen Bekanntmachungen und Experteninterviews im Radio.“ Doch besorgt ist Guillermo auch. Die schwangere Cousine seiner Freundin hat sich mit Verdacht auf Schweinegrippe in ein Krankenhaus einweisen lassen. „Ich glaube trotzdem nicht, dass es so viele Krankheitsfälle gibt wie behauptet“, sagt er.

Am Tacostand neben Guillermos Kiosk drängt sich die hungrige Kundschaft wie nie zuvor. Denn über 60 Prozent der weniger mobilen Restaurants in Mexiko-Stadt sollen geschlossen haben, seit Bürgermeister Marcelo Ebrard die gastronomischen Aktivitäten auf ein „Angebot zum Mitnehmen“ beschränkt hat. Nebenan essen die Gäste weiterhin Rippchen. „Wir servieren hier nichts mehr am Tisch und haben von uns aus aufgehört, Schweinefleisch zu verarbeiten“, sagt Gabriela von Super Pizza. Sie hofft, dass die Stadtregierung nicht auch noch einen allgemeinen Ladenschluss um 6 Uhr abends einführt, wie gemunkelt wird.

Umsatzgewinne verbucht auch Norma an ihrem kleinen Gemüsestand im Mercado Medellin. „Seit sie im Fernsehen ständig wiederholen, die Abwehrkräfte mit einer gesunden Ernährung zu stärken, verkaufen wir doppelt so viel wie früher“, sagt Norma. Dafür nimmt sie in Kauf, ihren 10-jährigen Sohn am Arbeitsplatz zu hüten. Die Schulen bleiben mindestens bis zum 6. Mai geschlossen.

Ob die Versorgung mit Medikamenten in Mexiko-Stadt wirklich sichergestellt ist, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Ein Angestellter des staatlichen biologischen Labors Birmex zumindest, der ungenannt bleiben möchte, berichtet, dass alle anderen Aktivitäten zugunsten der Herstellung antiviraler Medikamente eingestellt wurden. „Die Produktion läuft auf Hochtouren. Denn gerade in Mexiko-Stadt gehen interne Schätzungen von vielen nicht registrierten Fällen aus.“ Vielleicht auch deshalb folgt die mexikanische Regierung ihrer oft kritisierten Strategie, den bisherigen Verlauf der Schweinegrippe in Mexiko als glimpflich darzustellen und gleichzeitig die Bevölkerung aufzufordern, beim leisesten Verdacht ein Krankenhaus oder einen Facharzt aufzusuchen. Auf diese Weise wurden seit der letzten Woche zwar 9.806 Fälle von Atemwegserkrankungen dokumentiert, aber auch viel Misstrauen gesät.

Ein weiterer Kritikpunkt bleibt: Mexiko sei trotz erster Hinweise auf eine unbekannte Viruserkrankung in journalistischen Berichten Anfang April viel zu spät an die Öffentlichkeit gegangen, kritisiert die WHO. Und auch die Markthändlerin Norma findet: „Die mexikanische Regierung hat sich wieder mal sehr ungeschickt angestellt.“

Die Metronutzer in Mexiko-Stadt kritisieren derweil, dass die Soldaten nur an wenigen Punkten und erst ab 9 Uhr morgens Mundschutze verteilen würden. Denn die morgendliche Rushhour beginnt bereits drei Stunden vorher. Apotheker wie Gerardo haben es mittlerweile satt, jeden Morgen zwischen übermotivierten Kunden zu schlichten, die dutzendweise Mundschutze kaufen wollen. „Außerdem kommen immer noch Leute mit Rezepten für antivirale Medikamente, die wir längst nicht mehr geliefert bekommen“, sagt Gerardo. Das Gesundheitsministerium hat die Ausgabe per Dekret auf Krankenhäuser beschränkt.

Vor den Krankenhäusern in Roma Sur stehen keine Menschenschlangen, sondern ein paar wartende Angehörige von Patienten. Die Gespräche kreisen darum, ob die Fußballliga am Wochenende zumindest wieder vor leeren Rängen kicken wird, ob die weißen oder blauen Mundschutze die wirksameren seien und ob es am Ende nicht doch die Gringos gewesen sind, denen ein Laborexperiment in Richtung Mexiko entglitten ist. Smalltalk in Zeiten der Schweinegrippe.