Über das Bestatten

VON THOMAS MACHO

Die meisten Kulturen können durch ihre Beziehung zu den Toten – durch ihre Trauer- und Bestattungsrituale – charakterisiert werden. Sie kümmern sich um die Toten, nicht um den Tod. Daher tauchen abstrakte Begriffe des Todes erst relativ spät in den Sprachen auf. Davor galt der Tod als zufälliges Unglück. Die Drohung des Todes wurde erfahren nicht in der Vorstellung und Vorwegnahme des eigenen oder fremden Todes, sondern in der überwältigenden Gegenwart eines Toten. Ihr mussten die jeweiligen Kulturen trotzen. Denn was sich an den Toten erfahren lässt, ist auch deren Resistenz gegen jede soziale Verpflichtung. Die Toten sind Anarchisten. In der Totenrede auf seinen Freund Peter Noll bemerkte Max Frisch: „Kein Antlitz in einem Sarg hat mir je gezeigt, dass der Eben-Verstorbene uns vermisst.“

Nicht der Tod, sondern der Tote versetzt eine Welt in Schrecken. Er ist anwesend in Abwesenheit. Bis heute besteht darin die Universalität des Todes: nicht in der Gewissheit, dass wir alle irgendwann sterben werden, sondern dass ein Lebewesen verschwindet, indem es bleibt, als Leichnam; sie ergibt sich ferner aus der Erfahrung, dass dieses Bleibende nicht andauert, sondern eine Reihe von auffälligen Veränderungsprozessen durchläuft, die wir mehr oder weniger schamhaft als Verwesung bezeichnen; Veränderungen, die registriert und verborgen, aber auch gestaltet und beeinflusst werden können. Ein Lebewesen kann sich von der einzigen Erfahrung des Todes, die ihm bei lebendigem Leib gestattet ist, abwenden, oder sie praktisch, etwa durch technische Maßnahmen, beeinflussen. Und es kann diese materiellen Veränderungsprozesse symbolisch inszenieren, etwa als Trauerzeit oder als Reise des Toten in eine andere Welt.

Die Materialität des Toten ermöglicht zwei komplementäre Strategien: die Strategie der Verzögerung der Verwesung, etwa durch Konservierung oder Mumifizierung, oder die Strategie der Beschleunigung des Verwesungsprozesses, etwa durch Skelettierung oder Verbrennung. Bestattet wird allemal. Mit beiden Strategien lässt sich der zeitliche Verfall des Toten beeinflussen und gestalten: zugunsten der Transformation des Leichnams in ein kulturelles Erinnerungsbild. Der Ägyptologe Jan Assmann hat einmal darauf hingewiesen, dass in der altägyptischen Schrift mit demselben Hieroglyphenzeichen in liegender Position der Tote, in aufrechter Position dagegen ein Bildnis, eine Statue, bezeichnet wird.

Thomas Macho lehrt Kulturwissenschaft an der HU Berlin.