Ausnahmezustand in Chinas Uiguren-Region: Der Generalverdacht

Bei Han-Chinesen gelten Uiguren als träge, wegen ihrer Religion werden sie diskriminiert. Hintergründe der Unruhen

Szene in Urumqi: Eine kleine Uigurin neben einer Patrouille chinesischer Sicherheitskräfte. Bild: dpa

"Zur Beruhigung" heißt der Schnapsladen von Frau Tian. Vor zwei Jahren ist die Mittdreißigerin aus der zentralchinesischen Provinz Sichuan aufgebrochen und hat sich am südlichen Stadtrand von Ürümqi niedergelassen. Sie mietete einen vier Quadratmeter großen Raum in einer Marktgasse mitten im Slum am Bergrand, neben dem Hausratgeschäft eines Landsmanns. Dort verkauft sie nun hochprozentigem Klaren aus Hirse.

Am Eingang der Straße parken an diesem Tag drei Militärlastwagen der Bewaffneten Volkspolizei, einer Einheit der Armee. Einige der grün Uniformierten sind mit Gewehren bewaffnet, andere tragen Schlagstock und Schild. Sie blicken sehr wachsam auf die Menge von Frauen und Männern, die hier einkaufen.

Frau Tian hat dennoch Angst: "Gestern Nacht hat jemand ganz in der Nähe eine dreiköpfige Familie erstochen", berichtet sie. "Die Opfer waren Han-Chinesen. Und dann haben Han-Chinesen ein paar Uiguren umgebracht. Ohne die Polizei wäre hier jetzt die Hölle los."

Am 5. Juli ist es in Ürümqi zu blutigen ethnischen Unruhen gekommen, bei denen nach offiziellen Angaben 184 Menschen gestorben sein sollen. Hier, im Süden der Stadt, wohnen die Ärmsten der Armen. An den braunen Hängen haben sie Hütten grob zusammengezimmert, manche Behausungen sind aus Lehm, auf den Wegen modert der Müll.

Die Anwohner sind Landflüchtige aus den Oasen, die von ihren Feldern nicht mehr leben können. Sie sind meist muslimische Uiguren. Acht Millionen Angehörige dieses Turkvolks leben in der Autonomen Region Xinjiang, die etwa fünfmal so groß wie Deutschland ist.

Auch Wanderarbeiter aus anderen Teilen Chinas, die im fernen Westen Chinas ihr Glück suchen, haben sich hier niedergelassen - und das birgt den Zündstoff für Explosionen, wie sie sich vor wenigen Tagen in Ürümqi ereigneten.

Denn es war nicht nur ein ethnischer und kultureller Zusammenprall, es ging auch um Neid, um Konkurrenz, um die Angst, vom Wirtschaftsboom Chinas abgehängt zu werden.

In den vergangenen Jahren ist die Wirtschaft Xinjiangs jährlich um 11 Prozent gewachsen. Die Region, deren Namen chinesisch "neue Grenze" lautet, ist reich an Gas, Öl und Kohle. Hier kann man, wenn man Glück und gute Beziehungen hat, wohlhabend werden, unter den Han-Chinesen ebenso wie unter Uiguren ist eine reiche Schicht entstanden. Der Boom hat neue Straßen, Flughäfen und Wohnviertel gebracht - und bis zu 2 Millionen Han-chinesische Neubürger aus dem Binnenland angelockt.

Die Folgen sind in den Gassen am Yamalike-Berg wie unter einem Mikroskop zu beobachten. Mehr und mehr Stände und Lädchen gingen in den letzten Jahren in die Hände von Han-Chinesen über. Den einheimischen Uiguren blieb, wie Frau Tian schätzt, nur rund ein Fünftel des Geschäfts. Viele der uigurischen Männer sind arbeitslos.

Was die Situation erschwert: Viele Uiguren aus den Dörfern sprechen kaum Chinesisch, sie sind nicht gut ausgebildet, bei ihnen geht alles etwas langsamer als bei den Han-Chinesen.

Frau Tian, die Schnapshändlerin, erklärt die Spannungen so: "Die Uiguren sagen, das sei ihr Land. Sie denken, dass wir ihnen die Heimat und die Arbeit wegnehmen. Sie sind böse auf uns, weil wir erfolgreicher sind als sie." Andere Han-Chinesen werfen den Uiguren grobe Undankbarkeit vor: "Ohne uns wäre Xinjiang noch längst nicht so gut entwickelt."

Die Ausschreitungen vom vergangenen Sonntag, als tausende Uiguren plötzlich gegen Han-Chinesen losschlugen, und die Racheakte von Han-Chinesen in den folgenden Tagen haben diesen tiefen Riss in der Region deutlich gemacht.

Während Funktionäre des Religionsamtes vor der Presse die amtliche Minderheitenpolitik preisen, im Zentrum Ürümqis gewaltige Konvois der Bewaffneten Polizei auffahren und Lautsprecherwagen den Zusammenhalt der Volksgruppen beschwören, ist eines glasklar: Die bisherige KP-Strategie, mit wirtschaftlichem Aufschwung die Harmonie unter den Bürgern zu erzwingen, ist gescheitert.

Was Experten bereits im vergangenen Jahr nach den März-Unruhen in Tibet auch für Xinjiang voraussagten, ist nun eingetreten, allerdings noch brutaler.

Schon in den Achtziger- und Neunzigerjahren hatte es vereinzelt Zusammenstöße zwischen Uiguren und Han-Chinesen gegeben. Seit dem 11. September 2001 verschärfte die Regierung aus Angst vor dem wachsenden Einfluss islamistischer Organisationen aus den Nachbarstaaten Zentralasiens die Kontrollen über die Moscheen. Spätestens als uigurische Kämpfer in Ausbildungslagern von al-Qaida in Afghanistan gefangen wurden, zog Peking in Xinjiang die Schrauben erneut an.

Seither fühlen sich viele Uiguren unter einer Art Generalverdacht: Geschäftsleute, die seit Jahren regen Handel mit den westlichen Nachbarstaaten bis hin zur Türkei treiben, erhalten plötzlich keinen Reisepass mehr. Die Han-chinesische Konkurrenz dagegen darf weiter ungestört ausreisen. Ärger bereiten auch die Versuche der Regierung, Imame und Moscheen zu kontrollieren.

Im Stadtzentrum, hinter einer kleinen Moschee, steht eine tief verschleierte Uigurin, nur ihre Augen sind zu sehen. Sie spricht perfektes Chinesisch, und dennoch hat sie sich aus der modernen Gesellschaft zurückgezogen. Früher hat sie in einer Telefonfirma gearbeitet. Weil die Regierung es den Frauen verbietet, verschleiert in Staatsbetrieben, Behörden oder Schulen zu arbeiten, entschied sie sich, zu Hause zu bleiben.

"Das ist meine Religion", sagt sie, "da dürfen die mir nicht reinreden." Auch Männer müssen Kompromisse machen. Tragen sie einen zu langen Bart, erhalten sie keinen Posten im öffentlichen Dienst. Uigurischen Schülern unter achtzehn Jahren ist es nicht erlaubt, in der Moschee zu beten.

Was die Situation verschärft, ist das große Misstrauen der meisten Bewohner - egal ob es Han-Chinesen oder Uiguren sind - gegen die Informationspolitik der Behörden. Viele Bewohner Ürümqis glauben, dass die Regierung das wahre Ausmaß des Konflikts verschleiern will.

Herr Li, ein Berufsfahrer, hört regelmäßig die Sendungen im Radio, in denen Familien nach Angehörigen forschen, die seit dem 5. Juli verschwunden sind. "Da sind sicher viel mehr Leute umgekommen, als wir wissen", glaubt er. So blühen Gerüchte, die neuen Zorn und neue Angst schüren.

Die Sorge der Regierung, gewalttätige Gruppen könnten die Unzufriedenheit unter den Uiguren und anderen Minderheiten nutzen, um für ein islamisches "Ostturkestan" zu kämpfen, mag berechtigt sein.

In den vergangenen Jahren gab es vereinzelt Bombenanschläge und Überfälle auf Polizeistationen. Doch die Führung benutzt den Kampf gegen "Terrorismus" und "Spaltertum" auch als Vorwand, um Kritik an ihrer Politik zu unterdrücken. Der uigurische Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti, dessen Blog zum Forum lebhafter Debatten über die Probleme Xinjiangs geworden war, soll in der vergangenen Woche in Peking verhaftet worden sein. Der 39-Jährige, der an der Nationalitätenhochschule lehrt, hatte Reformen gefordert.

In einem solchen Klima ist es nicht mehr möglich, offen und kontrovers darüber zu debattieren, welchen Platz die Uiguren in der chinesischen Gesellschaft haben - und wie sie mit den Herausforderungen der Zukunft fertig werden sollen. Im Gegenteil: Allgegenwärtig ist in diesen Tagen unter vielen Uiguren die Angst, verhaftet zu werden, nur weil man mit ausländischen Journalisten gesprochen hat.

In einem kleinen Geschäft am Siegesmarkt in der Dawan-Straße, einem der Brennpunkte der Unruhen, sagt ein gut dreißigjähriger Uigure erregt: "Die Polizei lässt unsere Leute einfach verschwinden. Sie nehmen Jungen und Männer mit, und wir sehen sie nie wieder." Sie sind höchst besorgt, denn in Chinas Polizeizellen - nicht nur in Xinjiang - werden Geständnisse oftmals durch Folter erzwungen. Doch Behauptungen, dass die Zahl der Verhafteten in Wahrheit viel größer sei als angegeben, sind zunächst nicht nachprüfbar.

Die Regierung hat angekündigt, "nach dem Gesetz" alle zu verfolgen, die an den Unruhen in den vergangenen Tagen beteiligt waren oder dazu aufgerufen haben. In dieser Situation wären glaubwürdige und transparente Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen bitter nötig, damit sich das Gefühl, Opfer großer Ungerechtigkeit zu sein, das sowohl unter Uiguren als auch unter vielen Han-Chinesen verbreitet ist, nicht noch verstärkt.

Doch die Chancen, einen fairen Prozess zu bekommen, stehen schlecht: Experten erwarten für die nächsten Tage - wie in Tibet - eine Reihe von Schnellprozessen, in denen Häftlinge in kürzester Zeit verurteilt werden - viele womöglich zum Tode.

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