Die neue Stuttgarter Republik

Sie nennen ihren Bürgermeister einen Lügner, sie lachen ihren Minister aus. Sie haben keinen Respekt mehr, höchstens vor dem Doktortitel. Vom Untertanengeist, der ihnen in den Knochen steckte, haben sich die Württemberger frei gemacht. Hält das auch, wenn der Volksentscheid verloren geht? Ja, glauben Optimisten

■ Der Volksentscheid: Am 27. November wird beim ersten Volksentscheid des Landes Baden-Württemberg über das „S-21-Kündigungsgesetz“ abgestimmt. Mindestens 33,3 Prozent der 7,5 Millionen Wahlberechtigten müssen für das Gesetz stimmen, wenn die grün-rote Regierung den Bau des Tiefbahnhofs stoppen soll. Die Grünen sind gegen den Bau, Fraktion und Regierungsmitglieder der SPD sind dafür, Vize-Ministerpräsident Nils Schmid gehört wie führende CDU- und FDP-Politiker dem Bündnis „Pro Stuttgart 21“ an. Die Landesgrünen sind Teil des Bündnisses gegen Stuttgart 21.

AUS STUTTGART PETER UNFRIED

Das Motto der Württemberger lautete seit 1514: „No enn nix neikomma“. Also lieber isoliert zu Hause bleiben, als sich einzumischen. Damals hatten sich die Bauern gegen Herzog Ulrich von Württemberg erhoben, weil er sie permanent beschissen hatte. Doch dann setzten sie ihn nicht ab, als die Chance da war. Stattdessen bekamen es immer mehr mit der Angst und rannten davon, bis der Herzog die Übriggebliebenen widerstandslos köpfen, hängen, foltern oder einkerkern ließ. Das wirkte, glaubt Gangolf Stocker, über Jahrhunderte nach. Durch den Widerstand gegen Stuttgart 21 sei das Trauma überwunden. Es gebe dadurch auch einen „neuen sozialen Zusammenhalt“. Bleibt das auch so?

Stocker sitzt in einem Café ein paar Schritte vom Stuttgarter Rathaus. Die letzte Wespe des Jahres kreist um die Zuckerdose. Er ist seit 1969 in der Stadt, kämpft seit 16 Jahren gegen Stuttgart 21 und ist darüber grau geworden. „Ich kenne sie alle“, sagt er beiläufig. Man kommt an ihm nicht vorbei, wenn man skizzieren will, wie es um die neue „Stuttgarter Republik“ steht, also die Politisierung von Teilen der baden-württembergischen Gesellschaft. Derzeit kursieren zwei Negativszenarien. Erstens: Die Leute sind müde und die angeblich Neupolitisierten zählten wieder in ihren Eigenheimen die Perlen an ihren Ketten. Zweitens: Wird der Bahnhof doch gebaut, bricht die Bewegung zusammen. Wahlweise brechen auch die Grünen (gegen S 21), die SPD (pro S 21) und/oder die Regierung zusammen.

„Erstaunlich ruhig“

Mag sein, dass es manchen schon reicht, dass sie Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen positiv wahrnehmen. Sicher wächst auch Überdruss an der Bahnhofsfrage, je weiter man sich von Stuttgart entfernt. Vor allem aber gibt es Ende November einen Volksentscheid. Da gilt es – und das mag der Grund sein, warum Stuttgart verhältnismäßig ruhig wirkt. „Erstaunlich ruhig“, brummt Stocker. Fast so wie früher.

Stocker, 66 Jahre alt, war das Gesicht des Protestes, obwohl er selbst keinen klassischen Bildungsbürgerhintergrund hat. Nach der Abwahl der CDU Ende März hatte er seine Sprecherfunktion im Aktionsbündnis aufgegeben. Es hatte gekracht. Inzwischen hat er Neues aufgebaut. „Wir reden mit“ heißt das Experiment, bei dem Regierende und Bürger auf dem Marktplatz miteinander sprechen. Der Ministerpräsident war schon da und sogar der angeschlagene CDU-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, ein klassisch-konservativer Verwaltungsbeamter und Feindfigur aller S-21-Gegner.

„Bitte lassen Sie Dr. Schuster ausreden“, rief der Moderator in die Menge. „Lassen Sie ihn zu Ende lügen“, rief einer der 3.000 Leute zurück. Ansonsten wurde der OB immer korrekt als „Herr Doktor“ anredet. Doch die, denen alles nicht weit genug geht, brummen schon, das sei auch nur Demokratiesimulation. Aber man kann es auch als spannendes Format von Rückkopplung sehen. Als allerdings unlängst die Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) auflief, kamen nur 250.

Stocker wollte „Wir reden mit“ zur Institution machen. Nun sagt er, man müsse nach dem Volksentscheid weitersehen. Grundsätzlich aber habe sich Stuttgart dauerhaft verändert, seit sich die „Ängstlichen rausgetraut haben“ und sich damit aus seiner Sicht ein Querschnitt der Bevölkerung gegen die jahrzehntealte Politik und Politikkultur ausgesprochen hat. „Es ist nicht denkbar, dass das wieder zurückgeht“, sagt er. In Stuttgart sei die Macht der Investoren durch die neue Mehrheit um die Grünen bis auf Weiteres nicht wiederherzustellen.

Man muss Schwabe sein

In Teilen dieser Stadt bewegt man sich über sogenannte Stäffele, das sind Fußgängertreppen zwischen den Straßen. Wenn man vom Landtag aus drei dieser Stäffele hochgeht, dann steht man vor dem Büro der AnStifter. Das ist eine Initiative, die engagierte Sachen machte, zu denen die kamen, die immer kamen. Jetzt treten auch normale Menschen ein, weil sie sagen – oder es Peter Grohmann jedenfalls so vermutet: „Die sind zwar bestimmt links, aber trotzdem okay!“ Man muss Schwabe sein, um zu verstehen, was für ein Paradigmenwechsel das ist.

Grohmann ist Koordinator der AnStifter und überregional eher als Kabarettist bekannt („Vom Stasi zum Aldi“), stammt aus einer Arbeiterfamilie, 1961 aus der SPD ausgeschlossen. Undogmatischer Linker. Heute denkt er, Veränderung wäre sogar mit Grünen und SPD möglich. Hinter ihm steht das Bücherregal des Deutschlands nach 1945: Die Mitscherlichs, Erich Fromm, Ensslin/Vesper, Albert Speers Erinnerungen und so weiter. Er selbst ist von einer erstaunlichen Jetztheit. Und er amüsiert sich. Endlich was los.

Die Mitgliederzahl der AnStifter ist rasant gestiegen. Man veranstaltet Demokratiekongresse für die neue Kundschaft. Der letzte kostete 8.000 Euro. Früher nicht zu finanzieren, heute „kein Problem“. Heute kann man an einem Wochentag einen Saal im Kunstverein füllen mit der Frage: Wie weiter? Wenn dann die Spendenbüchse rumgeht, klappert es nicht. Es raschelt. Und Frauen kommen jetzt!, sagt Grohmann. Tolle Frauen sogar. Nicht mehr nur die Nervzausel aus der marxistischen Tarnorganisation. Gut, Studierende und Schüler fehlen, „aber wir Alten haben ein Riesenvernügen“.

Grohmann ist laut Pass 74 Jahre alt. Während Stocker etwas streng wirkt, schafft er Nähe mit einem Jungengrinsen. Und wer hat die Macht in Stuttgart? „Die Macht?“ Kurze Pause. „Die Macht ist ein bisschen angeknabbert.“ Die alte Macht sei infrage gestellt worden durch die Macht der Information. Und, auch das kennt Grohmann aus Stuttgart so nicht: „Das Bewusstsein für zivilen Ungehorsam ist deutlich gestiegen.“ Dass man bei vielen mit Floskeln über den Bahnhof nicht mehr durchkommt, ist unbestritten. Aber auf dem Land gilt die kritische Masse noch immer als sehr dünn. Und was ist mit der Informationsmacht, wenn es um echte Zukunftsfragen der Energiewende geht?

In der Paulinenstraße hat das Aktionsbündnis ein Büro, das für den Volksentscheid und gegen S 21 mobilisieren will. Zu dem Bündnis gehören die Landesgrünen, der DGB, der BUND, die Parkschützer, Stockers Rathausfraktion SÖS, die Linke und Nichtregierungsteile der SPD. Brigitte Dahlbender ist Sprecherin. Sie spielte als BUND-Landesvorsitzende eine zentrale Rolle in der Anti-S-21-Bewegung und saß an Geißlers Schlichtungstisch. Auch beim BUND raschelt es. Die Spenden für den Regionalverband sind 2010 von 15.000 auf 104.000 Euro gewachsen.

Wenn dann die Spendenbüchse rumgeht, klappert es nicht. Es raschelt. Und Frauen kommen jetzt! Tolle Frauen sogar, sagt Peter Grohmann

Dahlbender, 56 Jahre alt, wohnt in einem ländlichen Teil von Ulm, kommt mehrfach wöchentlich mit Bus und Bahn gefahren. Sie spürt „eine spannendere, offenere, interessantere Stadtkultur“. S 21, sagt sie, „ist ja auch ein kultureller Protest.“ Die Montagsdemo ist ein soziales Ritual mit zuletzt bis zu 4.000 Teilnehmern. Kurz vor der Abstimmung wird man den hundertsten Montag zelebrieren. Zwei Filme über die Bewegung sind entstanden, Bücher, Ausstellungen, Theaterstücke, ein Musical. Es gibt einen neuen Fernsehsender (fluegel.tv), das Magazin Einundzwanzig sowie die Internetwochenzeitung kontext – die samstags gedruckt der taz beiliegt. Dahlbender hält die Bürgerbeteiligung für „nicht mehr rückholbar“. Sie verweist auf Planungen im Land, bei denen Bürger jetzt früher oder besser integriert würden.

Man könne, sagt Schauspieler und S-21-Gegner Walter Sittler am Telefon von einem Auslandsdreh, „in dem Sinne von einem neuen Baden-Württemberg sprechen, als sich im Widerstand Gruppen und demokratische Strukturen gebildet haben, die weit über den Bahnhof hinausgehen und die nicht Parteien dienen oder Machtstrukturen“. Einerseits. Er findet auch, dass mit den Grünen und ihrem Junior SPD in der Regierung „einiges vorwärts“ gehe.

Andererseits ist die Frage, ob S 21 gebaut wird oder nicht, für ihn weiterhin zentral, weil ihn die Beschäftigung damit in die Abgründe der praktizierten Demokratie blicken ließ. „Wenn die Bahn es schafft, dieses Ding wider besseres Wissen zu bauen, dann wird es eine Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg für viele Jahre sehr, sehr schwer haben; da nützt auch Gisela Erler nichts.“ Erler ist Kretschmanns Staatsrätin für Bürgerbeteiligung – es klingt, als brächen die neuen Strukturen im Fall des S-21-Baus zusammen oder konzentrierten sich auf Trauerarbeit.

Agieren wie Fritz Teufel

Fast jeder S-21-Gegner weiß, dass ein Volksentscheid mit einem Drittelquorum tendenziell ein Verhinderungsentscheid ist. 2,54 der 7,5 Millionen Wahlberechtigten müssten für das „S-21-Kündigungsgesetz“ stimmen. Als Vizeministerpräsident Nils Schmid bei „Wir reden mit“ von einer „fairen Chance“ sprach, erntete er Gelächter. Andererseits: Ist nicht das Unmögliche möglich? Stocker hat die Ängstlichen auf die Straße gebracht, Grohmann sieht die sich wegen zivilen Ungehorsams zum ersten Mal vor einem Gericht stehenden Bürger manchmal schon fritzteufelesk agieren. Und im Gegensatz zu Herzog Ulrich ist CDU-Ministerpräsident Mappus demokratisch abgewählt worden.

Als OB Schuster sich seinem Volk stellte, wurde er von einem Esslinger Schuldirektor gebeten, 2012 noch mal zu kandidieren. „Herr Doktor Schuster“, rief der wackere Rektor, „geben Sie uns die Genugtuung, Sie abzuwählen.“ Es gibt offenbar noch viel zu tun – über den Bahnhof hinaus.