Das letzte Klischee

FEST I Das gewaltbereite Spektrum hat den Berliner Stadtteil Kreuzberg verloren. Dadurch ist ein neuer Ort der Kommune entstanden – so politisch wie ein Dorffest

■ 2012 Demoteilnehmer: 15.000 Polizisten im Einsatz: 7.000 Verletzte Polizisten: 124 (mehr als im Vorjahr) Verletzte Demonstrierende: 6 mit Platzwunden, knapp 40 von Pfefferspray geschädigte Festnahmen: 123 (weniger als im Vorjahr) Innensenator: Frank Henkel (CDU) Polizeipräsidentin: Margarete Koppers

■ 1987 fanden die ersten 1.-Mai-Ausschreitungen in Berlin statt. Völlig überraschend randalierten, plünderten und brandschatzten Demonstrierende im Stadtteil Kreuzberg. Nur 400 Polizisten waren im Einsatz, verletzt wurden mehr als 100 Personen. Der Supermarkt Bolle in der Wiener Straße erinnerte noch lange danach als niedergebrannte Ruine an die Ereignisse. Im Jahr darauf war man besser vorbereitet.

■ 1988 Demoteilnehmer: 6.000–8.000 Polizisten im Einsatz: 1.500 Verletzte Personen: mind. 50 Festnahmen: 134 (darunter ein taz-Mitarbeiter) Innensenator: Wilhelm Kewenig (CDU) Polizeipräsident: Georg Schertz Quelle: nadir.org

VON KONRAD LITSCHKO
UND MARTIN KAUL

Es geht wieder ein 1. Mai in Berlin zu Ende. Die paar dutzend Jungs, die in der Nacht noch am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg stehen, sind noch dageblieben. Immer wieder rufen sie den „Bullen“ ihren Hass entgegen. Und ab und an wird dann einer von ihnen festgenommen. So läuft das auch in dieser Mai-Nacht. Aber das ist auch schon alles.

Eine abgefackelte Mülltonne, ein entglastes Polizeiwachthäuschen, einige obligatorische Stein- und Flaschenwürfe gehörten auch in diesem Jahr wieder zu den Fotomotiven rund um den 1. Mai. Doch Polizei und Beobachter sind sich einig: Das waren Nebenaspekte. Der 1. Mai 2011 war schon reichlich unspektakulär – und in diesem Jahr ging es noch entspannter zu. Das Dorffest hat Berlin erobert.

Pendant der Provinz

Das sind die Szenen dieses neuen politischen Modus: Studenten bieten aus den Parterrefenstern ihrer Wohnungen den Inhalt ihrer Kühlschränke feil. Kreuzberger Türken verkaufen selbstgemachte Köfte und Wassermelonenscheiben für zwei Euro. Hipster, die neben Hipster-Hassern vor Bühnen tanzen. Und im „Jodelkeller“ kippen sich Hells Angels einen hinter die Weste. Dieses Nebeneinander findet auf jedem Dorffest landauf, landab sein – etwas provinzielleres – Pendant. Meistens wird viel gesoffen. Und am Ende gibt es eine Schlägerei.

Heute plündert Kreuzberg nicht mehr, heute versichert es sich seines Daseins. Nun fällt es leicht, dieses wilde Gewirre als den kollektiven Verdruss von Freizeitliebhabern misszuverstehen. Aber muss diese Manifestation eigentlich wirklich unpolitisch sein? Vielleicht nicht: 25 Jahre nach der Ausrufung der ersten Krawalle rückt in Berlin die Idee der Kommune als politischer Gemeinde, in ihrem Wortsinn, wieder in den Mittelpunkt.

Der Festakt hat nur den Krawall ersetzt, nicht aber das Anliegen. 15.000 Menschen, weit mehr als in den Vorjahren, beteiligten sich an der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ in Berlin. Und je mehr Zulauf die Demonstration erhält, desto mehr verblasst Jahr für Jahr die Projektionsfläche, durch die die Demonstration alljährlich gleichförmig als letztes Klischee eines inszenierten Medienereignisses bemüht wird.

Das Großritual der stilisierten Revolte ist nur das Überbleibsel einer sogenannten autonomen Bewegung, die längst von anderen gekapert wurde. Ob die Protagonisten des autonomen Spektrums dies wollen oder nicht: Die größte linksradikale Demonstration Deutschlands ist – politisch liberalisiert – zu einem Forum alternativer Gesellschaftsentwürfe geworden. Zwar vermummt sich vorne weiter der schwarze Block. Hinten aber laufen, von all dem unbeeindruckt, jährlich mehr Gewerkschafter der Ver.di-Jugend. Dort fordern Stadtteilinitiativen niedrigere Mieten und Kurden ein freies Kurdistan.

Kaum hatte am Dienstag eine kleine Steineschmeißerei begonnen, schallte von den Lautsprecherwagen der Demonstration schon der Ruf zum Rückzug.

Ob freiwillig oder unfreiwillig: Das autonome Spektrum macht damit den Weg frei für eine Zusammenkunft, die politischer werden könnte, als sie es je war: Es macht Platz für Inhalte.

Steine schmeißende Chaoten, sinnentleerte Krawallorgien – und Feuerspektakel, die die ganze Hauptstadt in Panik versetzen. Sind das nicht die Klischees, die die Menschen in München und Saarbrücken, in Aachen, Dresden und Flensburg im Kopf haben müssen, wenn ihnen vom 1. Mai berichtet wird?

Es sind Klischees, die noch nie wirklich gestimmt haben.

Denn so richtig klar waren die Frontlinien in Berlin-Kreuzberg schon vor 25 Jahren nicht. Als sich 1987 die Krawalle in Kreuzberg erstmalig Bahn brachen, als Polizeiautos umgekippt wurden und Geschäfte ausgeräubert, da plünderten auch Anwohner den Supermarkt Bolle mit. Es waren ausgerechnet Aktivisten aus dem autonomen Spektrum, die am Folgetag Flugblätter klebten. Man finde es „beschissen“, stand darauf, dass „einige blind um sich geschlagen haben“.

Weniger Dogma

Was dennoch stimmt, ist, dass der 1. Mai selten auf so wenig dogmatisches Potenzial zurückgreifen konnte wie heute. Nach und nach sind in den letzten Jahren die brachialen Szenen einem Ereignis gewichen, das nicht allein dadurch uninteressanter wird, dass es friedlich bleibt.

Im Gegenteil: Dass das Dorffest im Sinne einer politisch-solidarischen Zusammenkunft inzwischen eine Metropole wie Berlin erobert hat, ist vor dem Hintergrund seiner jahrelangen mythologischen Aufladung beinahe revolutionär. Ganz entspannt definiert die Stadt einen Tag lang inhaltlich von unten, welche Anliegen sie in ihren täglichen Kämpfen transportiert. Das ist auch auf dem Lande nicht anders: Wenn beim dritten Bier gestritten wird, durch welchen Vorgarten die Scheiß-Umgehungsstraße führen soll.

In seiner Unaufgeregtheit kann das Berliner Maifestspiel so inzwischen als das funktionierende Experiment eines alternativen Gesellschaftsangebots wahrgenommen werden, das an diesem Tag in der Metropole offen vorgelebt wird: multikulturell, kollektiv, solidarisch. Und mit einem Bewusstsein für die eigene Kommune. Gegen Mieterhöhungen protestieren sie am Eck, gegenüber tanzen sie aus Protest gegen die Schließung alternativer Kulturstandorte.

Selbstredend haben sich die Menschen längst von der Vorstellung verabschiedet, ihr Tag könne ihren Stadtteil umkrempeln, gar die Gesellschaft verändern

Als am Kottbusser Tor wieder ein Betrunkener eine Flasche wirft, sind es nicht etwa die Zivilpolizisten am Straßenrand, die eingreifen, sondern es ist ein jugendlicher Kreuzberger. „Was soll’n das, Mann?“, schreit er. „An deiner Stelle würde ich schnell weiterlaufen, bevor ich richtig sauer werde.“ Am 1. Mai ist dies eine eigene Würdigung wert. Was sich darin zeigt, ist die praktische Anrufung eines Kollektivs, das auf ihre sogenannten Ordnungshüter gut verzichten kann.

Selbst der früher als Hardliner verschriene Berliner CDU-Innensenator Frank Henkel scheint inzwischen begriffen zu haben, dass er dem nicht hineinregieren kann. Je mehr Raum er der Kommune gibt, desto weniger Ärger bekommt er dafür.

Electrobeats und Caipirinha

Natürlich: Der 1. Mai in Kreuzberg ist auch der performative Akt eines künstlichen Kollektivs, das immer nur für eine Nacht entsteht. Einmal im Jahr kommt die Stadtgesellschaft zusammen, um anarchisch der Obrigkeit ihr Dasein zu demonstrieren. Einen Tag lang Caipirinha und Electrobeats, danach zurück in den Trott. Selbstredend haben sich die Menschen längst von der Vorstellung verabschiedet, ihr Tag könne ihren Stadtteil umkrempeln, gar die Gesellschaft verändern. Doch das Dorffest war noch nie die schlechteste Variante, dies wahrzunehmen.

Die Kommune verändert sich im Normalzustand.

Am Tag der Arbeit stellt sich lediglich die Frage, ob ein Arbeiter von seiner Arbeit noch leben und ob er seine Miete zahlen kann. Diese Frage stellen sich in Berlin immer mehr Menschen. Die Frage, wie viel am 1. Mai kaputtgegangen ist, interessiert zunehmend kein Schwein mehr. Klingt revolutionär. Ist aber so.