Bürgerbeteiligung ohne Bürger

THEORIE Jeder Bewohner des Landes kann in die Planung der neuen Stromtrassen eingreifen, aber fast niemand nutzt sein Recht

■ Planung: Grundsätzlich können alle Bürger jedes Jahr dreimal schriftlich oder persönlich in die Planung für den Stromtrassenbau eingreifen. Im „Szenariorahmen“ geht es zum Beispiel um die Strommengen, die die unterschiedlichen Energieträger liefern sollen. Beim ersten und zweiten Entwurf des Netzentwicklungsplans stehen die künftigen Leitungen im Mittelpunkt.

■ Zukunftsplanung: Umweltverbände, Netzbetreiber und Netzagentur überlegen gegenwärtig, ob dieses engmaschige Verfahren nicht zu viel des Guten ist und nur alle zwei oder drei Jahre stattfinden sollte. Festgelegt hat es die schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel im Energiewirtschaftsgesetz.

VON HANNES KOCH

BERLIN taz | Eigentlich könnten die Bürger jetzt mal richtig Alarm machen. Und damit auch etwas erreichen. Tun sie aber nicht. Auf einer der zentralen Dialogveranstaltungen zum Bau der Stromtrassen sind nur 2 Menschen erschienen, die ihre Interessen selbst vertreten. Die anderen 100 Anwesenden arbeiten für Energieunternehmen, in Ministerien, Naturschutzbehörden oder Verbänden.

Die Jerusalemkirche in Berlin, ein heller Raum aus den 1960er Jahren: Vorne haben die vier Netzfirmen, die die Höchstspannungsleitungen betreiben, ein Podium mit Blumen aufgebaut. Es gibt Mittagsessen, die Organisatoren der Netzbetreiber Amprion, 50Hertz, Tennet und Transnet kümmern sich. Die Veranstaltung ist Teil eines demokratischen Verfahrens, an dem alle Einwohner dieses Landes teilnehmen können. Schließlich wollen die Unternehmen und die Bundesregierung Tausende von Kilometern Stromtrassen durch das Land bauen. Als Ergebnis des bisherigen Planungs- und Beteiligungsverfahrens wurde eine von vier neuen Nord-Süd-Stromtrassen erst mal verschoben.

Warum kommen dann so wenige Bürger? „Es ist eine Überforderung“, sagt Hartmut Lindner, einer der beiden Vertreter von Bürgerinitiativen, die den Weg in die Jerusalemkirche gefunden haben. Graue Haare, weißer Vollbart, den Anstecker seiner Initiative am Hemd – der pensionierte Gymnasiallehrer aus Senftenhütte 75 Kilometer nordöstlich von Berlin kämpft gegen eine geplante Höchstspannungsleitung. Dort liegt das Unesco-Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Lindner fürchtet, dass Vögel gegen die Starkstromkabel fliegen und sterben könnten.

Als Pensionär habe er zwar Zeit, sagt Lindner, dennoch sei das Verfahren der Bürgerbeteiligung so komplex, dass es nur mit einer „Vollzeitstelle“ zu bewältigen sei. Jedes Jahr müssen die Netzfirmen das komplette Leitungsnetz neu berechnen und der Öffentlichkeit vorlegen. Nach mehreren Beteiligungsschleifen, bei denen jeder Bürger seine Einwendungen einreichen kann, entscheidet die Bundesnetzagentur. Ist der Plan für dieses Jahr fertig, kommt schon der Entwurf für 2014.

Schon beim Netzentwicklungsplan 2012 war die Zahl der Einwendungen aus der Bevölkerung nicht überwältigend. Rund 2.000 Leute schickten Mails oder Briefe an die Netzfirmen. Zum Plan 2013 gingen bislang 500 Stellungnahmen ein. Auch Hartmut Lindners Initiative hat diesmal darauf verzichtet: „Wir müssen mit unseren Kräften haushalten.“ Die Netzbetreiber sind einerseits froh, weil sie weniger Arbeit haben, die Bürgerbriefe zu beantworten. Aber sie wundern sich: Trotz der frühen Beteiligung würden sich die Leute offenbar erst bewegen, wenn die Bagger kommen.

Glücklicherweise gibt es die professionellen Repräsentanten aus den Umweltverbänden. In der Jerusalemkirche sind unter anderem VertreterInnen von Greenpeace und der Deutschen Umwelthilfe DUH erschienen. Ihr zentrales Argument bringt Katja Rottmann von Germanwatch auf den Punkt: „Der Netzausbau erscheint uns überdimensioniert.“

Warum nutzen so wenige Bürger ihr Mitspracherecht? „Es ist eine Überforderung“, sagt Hartmut Lindner von der Bürgerinitiative

Die Tausende Kilometer neuer und ausgebauter Stromtrassen seien nicht in vollem Umfang nötig – schon gar nicht in den nächsten paar Jahren. Begründung: Die Windparks auf Nord- und Ostsee zu errichten und anzuschließen dauere länger als geplant. Demzufolge könne man sich mit dem Bau der Nord-Süd-Leitungen Zeit lassen (siehe Artikel unten). Die Verbände argwöhnen, dass ein Teil der neuen Trassen dem Transport von Strom aus Kohlekraftwerken dienen solle. Das widerspreche dem Ziel der Regierung, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren, kritisiert Gerd Rosenkranz von der DUH.

Dem hält Marius Strecker vom Netzbetreiber Tennet entgegen, das Stromnetz der Zukunft müsse „engpassfrei“ sein. Grundsätzlich sei der Auftrag, jede Kilowattstunde Strom zu transportieren – egal, ob aus Wind, Sonne oder Braunkohle. Allerdings kommen den Netzbetreibern selbst Zweifel an diesem Anspruch. Schließlich verursachen Leitungen, die man später vielleicht nicht braucht, Kosten.

Dient das angeblich so bürgerfreundliche Verfahren nur dazu, einer zentral entworfenen Energiepolitik den Schein demokratischer Legitimation zu verschaffen? Die Netzbetreiber müssen nicht jede Einwendung berücksichtigen. Aber grundsätzlich lässt sich im Verfahren doch etwas bewegen. So hat die Bundesnetzagentur nach der Bürgerkritik am Netzentwicklungsplan 2012 entschieden, einen Trassenkorridor von Wehrendorf in Niedersachsen nach Urberach in Hessen zu verschieben. Die Netzbetreiber müssen prüfen, ob es sinnvoll ist, jede hergestellte Kilowattstunde Strom zu transportieren. Absehbar ist aber auch: Sehr viele Bürger, die das Verfahren jetzt ignorieren, werden später die Politiker beschimpfen – weil sie völlig überrascht wurden.