Teilzeitberliner mit von Berlin inspirierter Americana-Musik und Vollzeitberliner mit einer Überdosis Testosteron: Woodpigeon und Neume

Dass Berlin auf Ausländer eine gewisse Anziehungskraft auszuüben scheint, das ist tagtäglich auf der Oranienburger Straße zu beobachten, wenn wieder eine italienische Schulklasse ihre eher unzureichende Beherrschung der gemieteten Fahrrädern demonstriert. Aber die Besucher stellen nicht nur ein Verkehrshindernis dar. Manchmal bleiben sie auch länger in der Stadt und schreiben Lieder. So wie Mark Hamilton. Der Sänger von Woodpigeon kam aus dem kanadischen Calgary, blieb ein paar Monate und ein paar sehr schöne Songs, die er dann zurück in der Heimat aufnahm mit seiner Band. Das Ergebnis heißt „Die Stadtmuzikanten“ und ist ein Konzeptalbum. Nicht so sehr, aber auch, weil es, wie Hamilton sagt, „von Berlin inspiriert“ ist. Vor allem aber deshalb, weil es die Geschichte seiner Großeltern erzählt, die einst von Österreich nach Kanada auswanderten.

Dass Berlin allzu österreichisch sein könnte, darauf kann man wahrscheinlich wirklich nur als Nordamerikaner kommen, aber egal: Das Ergebnis ist nichtsdestotrotz wunderschön. Woodpigeon spielen halbakustische Popmusik, die die Leerstelle im Spektrum zwischen Calexico und Rufus Wainwright mit kuscheligen Klängen füllt. Orchestral, meist melancholisch und immer wieder die Grenzen zur Americana touchierend, aber hin und wieder auch sehr europäisch, wenn in „Spirehouse“ ein paar Bläser wuchtig Volksfest imitieren oder gleich in „Redbeard“ eine Geige ganz irisch daherkommt. Der Song über den Rotbart ist allerdings eine Ballade, die davon erzählt, wie sich Hamilton in einen Piraten verliebt. „Ich mag Männer mit Bärten“, hat er in einem Interview gestanden, und auch, dass die Sache mit dem Konzeptalbum dann doch nicht ganz durchzuhalten war, weil die Songs vor allem autobiografisch geworden seien.

In vielerlei Hinsicht einen Gegenentwurf zum schwulen Hamilton bilden Neume: Sie leben nicht nur fakultativ, sondern immer in Berlin, vor allem aber wirkt ihre Musik wie von einer Überdosis Testosteron angetrieben. Tim Batheit und Tim Jedro produzieren allein mit Schlagzeug, Gitarre und Stimme einen ganz erstaunlichen Lärm. Tatsächlich fragt man sich bisweilen, wie die beiden mit dieser reduzierten Grundkonstellation und – wie sie versprechen – ohne Overdubs überhaupt einen solch dichten Sound entwerfen können.

Das gelingt dem Duo auf seinem Debütalbum „Inch“ vor allem dadurch, indem es sich auf Erkenntnisse stützt, die im amerikanischen Post-Punk gewonnen wurden. Intensität und Klangästhetik des Hardcore werden mit komplexen Strukturen aus dem Free Jazz gekoppelt. Man kann es auch einfacher sagen: Neume verdienen sich die selbstverliehenen Ehrennamen „Lightning“ Batheit und „Thunder“ Jedro mit körperlicher Schwerstarbeit. Die beiden spielen nicht einfach schnell, sondern verknoten sich Finger und Arme, dass einem schon vom Zusehen schlecht wird, aber brüllen dazu herum, als hätten sie gerade einer Fledermaus den Kopf abgebissen. THOMAS WINKLER

■ Woodpigeon: „Die Stadtmuzikanten“ (End Of The Road/Indigo), live am 8. 6. im Comet

■ Neume: „Inch“ (bluNoise/Alive), Release-Party am 10. 6. im Duncker