Dialektische Aufhebung

Manchmal ist auch der Musikkritiker Gegenstand der Musik. Ein Lied von Georg Kreisler heißt zum Beispiel gleich so, „Der Musikkritiker“, und darin wird zu diesem Berufsstand dann ausgeführt: „Es gehört zu meinen Pflichten, Schönes zu vernichten – als Musikkritiker!“

Der Regelfall ist so eine Anteilnahme der Musikmachenden an der Kritikerzunft allerdings nicht, was einfach eine Frage der Reihenfolge ist. Zuerst kommt halt immer die Musik und dann erst das Reden über sie mit dem Sortieren des Guten ins Töpfchen und des Schlechten ins Kröpfchen und was so eine Musik über eine Zeit aussagen kann, wenn man nur mal genau hinhören würde. Alles nicht bedeutungslos. Aber die Kritik ist eben nachrangig, was sich gerade auch dort spiegelt, wo doch mittlerweile das gesammelte Weltgedächtnis seinen Ort haben soll. Im Netz. Eigentlich alles, was mal als Musik aufgenommen wurde, ist da zu finden. Wie man sich an dieser Musik aber mal abgearbeitet hat, findet man eher nicht. Wenn man etwa mal einen ordentlichen historischen Verriss nachlesen will, bleibt es meist noch beim Griff zum Buch, Nicolas Slonimskys „Lexicon of Musical Invective“ etwa, einer Sammlung von heftigen Angriffen auf Musikmachende seit Beethoven, die auch Chris Dahlgren für eine recht eigenwillige Konzeptmusik hergenommen hat. Für das beim Jazzwerkstatt-Label erschienene Album „Mystic Maze“ hat der seit Längerem in Berlin lebende amerikanische Bassist etliche Anwürfe gegen Béla Bartók herausgesucht, die in einem Märchenonkelton verlesen werden, und dazu spielt er mit seiner Band Lexicon einen kammermusikalisch informierten, leicht zickigen Jazz. Das ist einerseits schlicht eine Ohrfeige für die zitierten Kritiker, die ja als widerlegt gelten dürfen, weil sie an Bartóks sicherem Stand in der Musikgeschichte nicht kratzen konnten. Und andererseits werden hier halt auch die Kritiker aus dem Vergessen herausgeholt, womit man bei diesem doppelgesichtigen „Aufheben“ ist, zu dem man Genaueres bei Hegel mit seiner „dialektischen Aufhebung“ nachlesen kann: dass diese Kritiker also obsolet sind und dass sie trotzdem eine bewahrenswerte Inspiration sein können. Gerade die besonders bösen Beispiele lernte Dahlgren beim Bartók-Projekt so schätzen und ihre leidenschaftliche Erregung, die die Musik heute nur mehr selten zu provozieren vermöge.

Brauchen sich vielleicht doch gegenseitig, die Musik und die Kritik. Heute Abend auch zusammen im Institut français, wo Chris Dahlgren & Lexicon bei der Langen Nacht der Jazzwerkstatt (neben dem Baby Sommer New Trio und anderen) spielen werden. THOMAS MAUCH

■ Lange Jazzwerkstatt-Nacht: Institut français, heute, 20 Uhr. 15/12 €