„Die erste global denkende Politaktivistin“

„Für die einen war sie eine Heilige, für die anderen eine Hysterikerin“ – erinnert sich Christa Nickels, 55. Die Grünen-Politikerin und langjährige politische Weggefährtin von Petra Kelly sagt: „Ihre gewaltfreien Aktionen haben den Protest in bürgerliche, in kirchliche Kreise getragen“

CHRISTA NICKELS, 55, ist Grünen-Politikerin der ersten Stunde, war parlamentarische Staatssekretärin und engagierte sich in ihrer Zeit im Bundestag vor allem für das Verhältnis zu den Kirchen. Nickels ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt heute in der Nähe von Heinsberg.

taz: Frau Nickels, Sie sagten vor kurzem, Sie vermissen Menschen wie Petra Kelly. Warum?

Christa Nickels: Petra Kelly hatte klare Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Dafür hat sie sich eingesetzt. Sie war eine geniale Politstrategin, die Ende der 70er-Jahre all die neuen Instrumente der politischen Aktion nach Deutschland gebracht hat. Sie hatte ja lange in Amerika gelebt und dort bei Antirassismuskampagnen, Antikriegskampagnen mitgemacht. Sitzblockaden, Menschenketten, strikte Gewaltfreiheit – solche Sachen.

War das neu?

Sicher. Damals waren die politischen Manifestationen hier doch grauslig. Man hatte langweilige Plakate und man hat aufeinander eingedroschen. Ihre gewaltfreien Aktionen haben den Protest in bürgerliche, in kirchliche Kreise getragen.

Das klingt, als stünde Kelly eher für Protestformen als für Inhalte.

Kelly ist als gewaltfreie Friedens- und Menschenrechtsaktivistin bekannt. Sie hat den Zusammenhang zwischen Ökologie und Lebensqualität thematisiert. Sie hat Missstände angeprangert. Etwa dass es für krebskranke Kinder kaum pädiatrische Behandlungsformen gab. Das hatte natürlich mit ihrer krebskranken Schwester zu tun. Sie hat Dinge gefordert, die heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind.

Vermissen Sie Kelly auch wegen ihrer so mitreißenden Ausstrahlung?

Sicher. Aber ich hab was dagegen, dass man Charisma und Effizienz trennt. Petra konnte mitreißen, aber sie hat auch alle Instrumente genutzt, um ihre Themen voranzubringen. Sie war die erste global denkende Politaktivistin. Sie hat die Aborigines unterstützt, die Situation Tibets auf die Agenda gesetzt, mit allen Mitteln die Bürgerrechtsbewegung im Ostblock gefördert.

Warum reißen Politiker heute meist nicht so mit?

Leute wie Petra wachsen nicht wie Champignons auf der Wiese. Ich lernte sie kennen, bevor wir in den Bundestag einzogen. Bei uns waren bereits atomare Sprengköpfe stationiert. Wir waren entsetzt über die Rüstungsspirale. Ich habe Petra als Rednerin für den Ostermarsch nach Geilenkirchen eingeladen, sie am Bahnhof abgeholt. Bevor wir zur Demo gingen, haben wir was gegessen, geredet. Da sagte sie: Du bist die Richtige, um die Grünen auf der Großdemo in Hiroshima zu vertreten. Petra hatte eine ungeheuere Fähigkeit, Leuten klarzumachen, was sie für Potenziale haben. Sie konnte einen so in Gang setzen, dass man sich das traute.

Heute feiern die Grünen Petra Kelly mit einem Erinnerungsbuch, mit einer Tagung. 1991, noch zu ihren Lebzeiten also, haben sie sie indes fallen lassen. Ein Widerspruch?

1991 waren die Grünen auf ihrem Tiefpunkt angelangt. Was damals auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Neumünster passierte, wie da tolle Leute fertiggemacht wurden – das war schäbig. 1991 war ein Menetekel für die Grünen.

Wie kam es dazu?

Nach dem Fall der Mauer haben sich die Westgrünen in Grabenkämpfe und eine Prinzipienreiterei der übelsten Art reingeritten. Alle redeten von der Gestaltung Deutschlands, und wir redeten vom Wetter. Man dachte, man könne in der Umbruchphase seine politischen Persönlichkeiten entsorgen. Wir haben die Quittung gekriegt und sind bei der Wahl aus dem Bundestag rausgeflogen.

Warum spielt das beim Erinnern keine Rolle mehr?

Man hat es verdrängt. Petra lebte noch bis 1992 – sie hatte kein Büro mehr, kein festes Einkommen, aber eine riesige internationale Reputation. Der Einzige, der ihr wirklich half, war Gert Bastian. Die hätte doch ein Menschenrechtsbüro gebraucht. Sie hat sich körperlich ruiniert. Das wussten die Grünen auch.

Ist es ein Baustein in der Tragödie, die sich dann im Oktober vor 15 Jahren ereignete, als Gert Bastian, Kellys Lebensgefährte, Kelly und sich erschoss?

Das glaub ich nicht. Man weiß bis heute nicht, was in jenem warmen Oktober passiert ist. Die zwei Leichen, die 18 Tage in der Hitze lagen. Aber eins kann ich sicher sagen: Kelly hatte einen absoluten Lebenswillen. Sie war für den Sacharow-Preis vorgeschlagen. Hinter den Kulissen wurde daran gearbeitet, dass sie bei der Europawahl aufgestellt wird. Selbst wenn das alles nicht gewesen wäre, sie hätte sich nie umgebracht, nie freiwillig töten lassen.

Ist Petra Kelly bei den Grünen auch deswegen durchgefallen, weil ihre nervig fordernde, vorwärts drängende Art nicht mehr in den parlamentarischen Mainstream passte?

Nein. Da haben die Grünen noch viele Lügen aufzuarbeiten. In den 90er-Jahren ist über Petra nur noch hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden. Für die einen war sie eine Heilige, für die anderen eine Hysterikerin. Dabei war sie eine der effizientesten Parlamentarierinnen. Ihre Themen und ihre Art, sie zu setzen, sind nach wie vor aktuell. Man kann viel von ihr lernen.

INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB