Seelsorge im Betrieb: Zwischen Gott und Arbeiter

Hartmut Zweigle ist der einzige evangelische Betriebsseelsorger in Deutschland. Zu ihm kommen Menschen, wenn sie der Kummer am Arbeitsplatz plagt – vom Geschäftsführer bis zur Prostituierten.

Mehr als nur beten: Seelsorge. Bild: subwaytree/photocase

Es war schon spät, als der Anruf kam. Die Kinder lagen bereits im Bett. "Ich geh schon", hatte er zu seiner Frau gesagt, beinah so, als hätte er es gewusst. Sie transportieren die Maschinen ab, hatte die Stimme am Telefon gesagt. Verzweifelt habe sie geklungen, so wie Menschen klingen, die Angst um ihre Existenz haben. Eine Stunde später war er vor Ort. Gemeinsam hatten sie sich den anderen, den Managern der Firma, entgegengestellt. In dem Moment war er einer von ihnen. Ein Demonstrant. Und vielleicht auch ein bisschen ein Arbeiter.

Vier Monate später. Wie jeden Morgen um acht sitzt Hartmut Zweigle, 47, am Frühstückstisch in Sindelfingen, geht noch einmal seine Termine durch. Am Mittag hat er ein Treffen mit dem Betriebsrat von Daimler, danach ein Gespräch mit einem Angestellten von SAP. Zweigle ist evangelischer Betriebsseelsorger. Der einzige im ganzen Bundesgebiet. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Pfarrer bietet er Seelsorge gezielt für Arbeiter und Betriebe an. Für nahezu alle Unternehmen in Baden-Württemberg ist er zuständig. Darunter die Großen wie Daimler, IBM, SAP. Angestellt ist er bei der Landeskirche. "Ich geh in die Betriebe und biete meine Hilfe an, rede mit dem Betriebsrat, halte Vorträge." Das ist der erste Schritt. Der ist wichtig. Wenn ihm das gelingt, sagt er, kann er mit seiner eigentlichen Arbeit beginnen. Der Seelsorge. Den Gesprächen. "Ich habe schon etwas von einem Paradiesvogel", sagt Zweigle, während er seine Brezel mit Butter bestreicht. Dabei sieht er gar nicht so aus, wie man sich einen Paradiesvogel vorstellt. Zweigle ist groß, hat ein rundes Gesicht, vorne etwas dünner werdendes Haar. Die Brille, die er trägt, sieht nach Fielmann aus, dahinter freundlich-blaue Augen. Seine Kleidung, beige Hose, dunkelblaues Poloshirt, wirkt schlicht und bodenständig.

Seit 14 Jahren macht Zweigle diesen Job nun schon. So viel Arbeit wie zurzeit hatte er noch nie. Drei bis vier Gespräche führt er am Tag, doppelt so viele wie vor der Krise. Zu ihm, sagt Zweigle, finden alle Berufsgruppen. "Vom Geschäftsführer bis zur Prostituierten - ich hab sie alle schon gehabt." Jederzeit könnten die Klienten zu ihm kommen. Die Firmen würden ihren Arbeitern sogar frei geben, doch trotzdem suchen ihn die meisten nach Feierabend auf. "Viele schämen sich, weil sie zum Seelsorger gehen", sagt Zweigle.

Doch nicht nur quer durch alle Berufe, auch durch alle Konfessionen zieht sich seine Klientel. Muslime würden das Gespräch mit ihm suchen, weil sie mit ihrem Imam nicht über ihre Arbeit reden könnten. Also kämen sie stattdessen zum Zweigle und reden mit ihm über das, was sie bedrückt.

Was sagt man den Menschen, die Angst haben, alles zu verlieren? "Zunächst, das es in Ordnung ist, Angst zu haben. Dass sie die Angst akzeptieren sollen." Und wie hilft man ihnen, wenn es passiert? Wenn sie ihren Job verlieren? "Man hilft ihnen, mit der Situation umzugehen." Zweigle stockt. "Manchmal kann man nicht helfen."

Der Betriebsseelsorger wirkt nicht verbittert, wenn er das sagt. Vielleicht, weil er denkt, dass letztendlich sowieso alles in Gottes Hand liegt. Vielleicht aber auch, weil er, wie er sagt "ne Russnatur" ist. "Ich hab während meines Studiums alle möglichen Jobs gemacht. Als Lkw-Fahrer, hab aufm Bau gearbeitet und auch auf dem Güterbahnhof in Tübingen", erzählt der Pfarrer. Zweigle kommt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war Schlosser, die Mutter Hausfrau. Das Arbeiterleben sei ihm nicht fremd, sagt er. Doch im Gegensatz zu seinen Eltern hat Zweigle studiert, ist Pfarrer geworden. Aus Berufung, wie er sagt. "Mein Onkel war Pastor und ihn habe ich immer sehr bewundert, vielleicht deshalb", sagt er.

Wenn er spricht, hört man seinen Dialekt. Zweigle ist hier aufgewachsen, in Schwaben. Für sein Studium der Theologie ist er aus seiner Heimat, dem Stuttgarter Raum, geflohen. Nach Bern und Tübingen. Dafür musste er hart arbeiten. Damals hat er angefangen, sich für die Schnittstelle zwischen Arbeiterschaft und Kirche zu interessieren. "Um vier Uhr morgens war beim Güterbahnhof Tübingen Arbeitsbeginn." Um pünktlich zu sein, ist er über die Gleise gelaufen. Das war verboten. "Um acht Uhr saß ich in der Vorlesung, und als der Professor was vom Johannesevangelium erzählte, dacht ich: Ist der da vorne noch recht bei Trost?" Im Gespräch sitzt Zweigle nicht breitbeinig da, so wie die meisten Männer es tun. Zweigle schlägt das rechte Bein eng über das linke, eher eine weibliche Haltung. Manchmal wirft er seine Hände in die Luft. Es sind große, raue Hände, die wirken, als können sie anpacken.

Einmal hat man Zweigle den Zugang zu einem Betrieb versagt. "Das war ein Kirchengemeinderat. Die haben gesagt, Kirche hätte in ihrem Betrieb nix verloren." Der 48-Jährige lacht. Es ist ein bitteres Lachen, wie das eines Mannes, der schon oft gegen Windmühlen ankämpfen musste. Nicht jeder seiner Kollegen aus den umliegenden Gemeinden unterstütze seine Arbeit. Seit Jahren fordert Zweigle bei der Landeskirche eine zweite Stelle. "Die Kirche vertut ihre Chance, wenn sie sich nicht um die Arbeiter kümmert", sagt Zweigle, und seine sonst so ruhige, fast bedächtig klingende Stimme geht für einen kurzen Moment eine Nuance zu hoch, um seinen Unmut darüber zu verbergen.

Goethe - nur zu Hause

Zweigle muss ins Büro. Schnell räumen die großen Hände das Frühstück im Esszimmer ab. An der Wand hängt Chagall, daneben ein drei Meter hohes Holzregal bis zur Decke vollgestopft mit Büchern: Goethe, Hesse, Schiller, lateinische Schriften. "Alle gelesen." Auf dem Weg zur Küche durchquert Zweigle das Wohnzimmer: zwei durchgesessene blaue Sofas, daneben ein kleines Klavier. Keine Bilder an den Wänden, kein Fernseher, kein unnötiger irdischer Schnickschnack. Lediglich ein paar liegengebliebene Spielsachen der Kinder liegen verstreut auf dem hellen Holzfußboden.

Mit einem klapprigen Kombi, hinten die Kindersitze, fährt Zweigle zu seinem Büro. Ausgerechnet hier, in Sindelfingen, der Stadt, die einmal als reichste Stadt Deutschlands galt, in der die Zebrastreifen aus Carrarafliesen sind, ist Platz für den einzigen evangelischen Betriebsseelsorger. "Die Menschen hier sind es nicht gewohnt, mit Krisen umzugehen", sagt Zweigle. In einer ehemaligen Lidl-Filiale hat Zweigle sein Büro eingerichtet. Hier sitzen auch seine Mitarbeiter, die selbst aus den unterschiedlichsten Berufen kommen. "Ja, wir haben Lidl besetzt", sagt er und ballt seine große Hand zur Faust. Den Revoluzzer nimmt er sich jedoch selbst nicht ab. Für viele Arbeiter sei es einfacher, in ein ehemaliges Supermarktgebäude zu gehen als in ein Gemeindehaus. Ein kleiner Holzschreibtisch, ein runder Glastisch mit zwei Stühlen für die Gespräche, wenig Bücher, kein Kreuz. Zweigles Büro wirkt so gemütlich und charmant wie das einer Behörde. "Das mit den Büchern habe ich extra so gemacht, um niemanden einzuschüchtern." Seine Stimme wird sanfter in diesem Raum.

Wird ihnen das alles nie zu viel? Die ganzen Gespräche, die Ängste? "Nein." Zweigle schweigt. Blickt auf seine Hände, seufzt. Dann sagt er: "Manchmal schon. Dann fahr ich nach Hause und geh auf den Heimtrainer." Mit einem leicht schiefen Lächeln fügt er hinzu: "Joggen kann ich ja nicht. Mich kennen hier alle. Dann würde es noch heißen: Der Pfaffe hat nix zu tun."

Am Mittag fährt er zu einem Treffen mit dem Betriebsrat von Daimler beim Italiener um die Ecke. Man kennt sich seit Jahren, unterstützt sich gegenseitig. Beide wissen, die Lage ist ernst, auch wenn man nicht sagen will, wie ernst. Auf dem Rückweg zu seinem Büro ist Zweigle wortkarg. Beim Überqueren des Carrara-Zebrastreifens sagt er: "Vor zwei Wochen habe ich das erste Mal mit eigenen Augen gesehen, dass bei Daimler die Bänder stillstanden. Das war ein Schock für mich." Vielleicht wird es Entlassungen geben. Vielleicht Demonstrationen. Wenn es so weit ist, wird er wieder vor Ort sein. Wie damals vor vier Monaten wird er sich gemeinsam mit ihnen den anderen, den Managern, entgegenstellen. Dann ist er für einen Moment wieder einer von ihnen.

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