PETER UNFRIED ÜBER CHARTSDIE JAHRESCHARTS 2009: MIT GOETZ, LOTTMANN, BEGEMANN, BIERMANN, KNOCHENMANN, WESTPHALEN, TELE, THOME, WÖLFE UND PLÜMPE
: Rainald Goetz und der Satz des Jahres

Charts 2009: Maxim Biller (Der gebrauchte Jude), FC Barcelona (Champions-League-Sieger), Daniel Cohn-Bendit (Europawahlsieger), Larry David (Whatever works, Curb Your Enthusiasm), Edin Dzeko (Weltklassefußball), Michael Haneke (Das weiße Band), Thomas Pynchon (Inherent Vice), Simone Thomalla (Tatort) und Harald Welzer/Claus Leggewie (Das Ende der Welt, wie wir sie kannten) sind ja wohl weltweit gesetzt. Hier sind meine zusätzlichen Favoriten.

Buch: Rainald Goetz – Loslabern. Eine Hitsingle, in der er losfeuert, dass es brodelt und kracht, gegen diesen ganzen Irrsinn des deutschen Feuilletons und den abartigen Opportunismus allenthalben. Aber dabei schon auch schaut, dass er jeden „wichtigen“ Literaturredakteur oder Feuilletonmächtigen erwähnt. Aber Goetz und die Zeitungen: eine große Liebe. Daher das Leid. Mal abgesehen von gut gemeintem „Was ist links“-Geschnarche; ein Haufen großartiger Sätze zum Unterstreichen. Z.B.: „Atlantis is calling S.O.S. for Love.“

Buch: Joachim Lottmann – Der Geldkomplex. Der Journalist ist bisweilen eine arme, aufgeblasene, selbstgefällige, selbstfixierte Egowurst. Und wenn dann noch Digitalisierung und andere Unannehmlichkeiten passieren: Oh je. Wäre ich Felicitas von Lovenberg, würde ich schreiben: „Lottmann hat in der Krise beschwingt eine Rakete namens Neue Popliteratur ins 21. Jahrhundert geschossen oder so“.Und würde KiWi das Buch in einer gerechten Welt bewerben, stünde das dann in der Anzeige. Musik: Bernd Begemann – Ich erkläre diese Krise für beendet. Diese Welt hatte eine Mädchenkrise. Was für eine. Dann kam Begemann und beendete sie. Mit dem Song: „Die neuen Mädchen sind da“. Das war noch vor Kristina Köhler. Ein Album für heitere, progressive Erwachsene.

Buch: Stefan Thome – Grenzgang. Debüt mit ausbaufähigem Stil, aber großem Inhalt. Jedenfalls für einen Mitvierziger. Nämlich: Privatistische Mitvierziger in der Provinz müssen mit dem leben, was übrig ist. Er – beruflich und auch sonst gescheitert, sie – gegen eine Jüngere ausgetauscht. Klingt bitterer, als es ist. Wie mein Schwiegervater immer sagt: „Hauptsache, gesund.“

Film/DVD: Der Knochenmann. Verfilmung von Wolf Haas’ zweitem Brenner-Roman. Mit Josef Hader. Was soll man mehr sagen? Vielleicht dies: Neben allem anderen ist das ein Film, der den Lebensstil verändern kann. Wer Bierbichler und Minichmayr Hühner und andere Exlebewesen zerhacken sieht, hält Vegetariertum für etwas Begehrenswertes.

Musik: Tele – Jedes Tier. Deutscher Post-Diskurs-Pop. Sehr, sehr lässig. Fast groovy.

Fußball: VfL Wolfsburg im Frühjahr 2009. Gegen 1899 Hoffenheim 4:0, gegen BVB 3:0, bei Hannover 96 5:0, gegen Werder Bremen 5:1. Zwetschge, Dzeko, Grafite, bumm, bumm, bumm. Wo hat man denn vorher (und nachher) so einen Fußball gesehen? In Wolfsburg jedenfalls nicht.

Buch: Christoph Biermann – Die Fußball-Matrix. Der Verfachlichung der Fußballbranche folgt die maximale Verfachlichung der Fußball-Literatur. Wer sich wirklich für Fußball interessiert, der braucht dieses Buch.

Buch: Joseph von Westphalen – Aus dem Leben eines Lohnschreibers. Der prätentiöse Irrsinn des Medienbetriebs aus der Sicht eines Autors, der auch vom Irrsinn lebt, aber nicht selbst durchdreht. Nicht mal, als der Cicero-Redakteur ihm das Wort „Dichotomie“ in eine Glosse reinredigiert. (Brutal!)

Satz des Jahres: „Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen“ (Eberhard Plümpe).

PETER UNFRIED

Hinweis: CHARTS Fragen zur Dichotomie? kolumne@taz.de Morgen: Matthias Lohre erkennt die MÄNNER